In „Hidden Potential“ untersucht Adam Grant, weltweit bekannter Professor für Organisationspsychologie an der Wharton Business School in den USA, wie Menschen ihr volles Potenzial entfalten können. Er beleuchtet die Einflussfaktoren des Charakters und gibt sowohl wissenschaftliche Einblicke als auch praktische Ratschläge zur persönlichen Weiterentwicklung. Das Buch hinterfragt etablierte Vorstellungen davon, wie man Expertise aufbaut und bietet interessante Perspektiven auf Lernen und Motivation. Er zeigt Wege auf, wie Schulen, Teams und Organisationen so gestaltet werden können, dass alle Beteiligten ihr Potenzial besser ausschöpfen können.
Teil 1: Charakterstärken
Der Autor unterscheidet zwischen Charakter und Persönlichkeit. Seiner Ansicht nach stellt die Persönlichkeit die Veranlagung dar (Stichwort Big Five) und ist relativ stabil. Die Persönlichkeit beeinflusst im Wesentlichen, wie wir denken, fühlen und handeln. Charakter hingegen ist die Fähigkeit, sich über diesen Instinkt zu stellen, besonders in schwierigen Situationen. Zu den Charakterstärken zählen Proaktivität, Entschlossenheit und Disziplin. Während Grant viele Quellen für seine Argumente anführt, bleiben die Quellen für diese Sicht auf das Phänomen Charakter jedoch spärlich.
Ein wichtiger Schritt für die persönliche Entwicklung ist es, die Komfortzone zu verlassen. Grant empfiehlt, aktiv das Unbehagen zu suchen, also Aufgaben und Situationen, in denen wir nicht von Anfang an gut sind. Fehler sollten spielerisch gesehen und erwartet, nicht grundsätzlich vermieden werden. Ist es dabei wichtig den eigenen Lerntyp herauszufinden? Die Lerntypentheorie gilt als wissenschaftlich nicht haltbar. Oft geht es nicht darum, die richtige Methode für sich selbst zu finden, sondern vielmehr die beste Methode für eine konkrete Aufgabe, wie beispielsweise Lesen statt Zuhören.
Der Psychologe geht auch der Frage nach, wie sich das Verhältnis zwischen Leistung und Erfolg steigern lässt. Hierbei gibt es viele Annahmen, die zwar weit verbreitet, aber im Lichte aktueller Forschung nicht mehr haltbar sind. Der Soziologe Max Weber stellte 1904 die These auf, dass durch den Einfluss von der Reform Martin Luthers die Arbeit in protestantischen Regionen nicht mehr als notwendiges Übel, sondern als Berufung betrachtet wurde und diese protestantische Arbeitsethik zu außergewöhnlichen Leistungen führte. Waren also Entschlossenheit, Fleiß und Disziplin die Ursache für den ökonomischen Erfolg?
Er berichtet, dass die Wirtschaftswissenschaftler Sascha Becker und Ludger Wößmann die Auswirkungen der Reformation ausführlich untersucht haben. Deren Forschung zeigt, dass Länder mit protestantischem Glauben tatsächlich ein größeres Wirtschaftswachstum verzeichneten. Dies lag jedoch nicht an deren Disziplin oder Entschlossenheit, sondern an der Alphabetisierung in diesen Regionen. Martin Luther hatte das Ziel, dass jeder die Heilige Schrift lesen können sollte, im Gegensatz zu Katholiken, die die Lehren mündlich in Predigten verkündeten.
Ein weiterer Aspekt ist dem Autor wichtig. Grant spricht sich für eine proaktive Informationsaufnahme aus, mit dem Ziel, sich weiterzuentwickeln. Wer hingegen eher reaktiv Informationen aufnimmt und sich vor allem von seinem Ego leiten lässt, fällt zurück. Der Autor berichtet von seinen eigenen Erfahrungen mit Vorträgen. Er wollte unbedingt alle Informationen aufsaugen und verteilte anonyme Feedback-Fragebögen. Das Ergebnis war wenig nützlich. Statt nach Feedback fing er an nach einem Ratschlag zu fragen, was er zukünftig besser machen könnte. So verlagerte er den Fokus von Fehlern hin zu Lösungen.
Streben nach Exzellenz statt Perfektionismus
Ein weiterer Punkt ist, ob Perfektionismus nützlich oder eher hinderlich ist. Intuitiv denken viele, dass Perfektionisten die besten Ergebnisse erzielen müssten, da sie alles perfekt machen möchten. Doch vielmehr empfiehlt es sich, nach Spitzenleistungen zu streben. Denn in vielen experimentellen Studien zeigte sich, dass diejenigen, die aufgefordert wurden, ihr Bestes zu geben, schlechter abschnitten und weniger lernten als diejenigen, denen zufällig schwierige Aufgaben zugeteilt wurden, aber mit einem spezifischen Ziel. Der Autor betont, dass Fortschritte vor allem dann von uns selbst gewürdigt werden können, wenn unser vergangenes Ich unsere aktuelle Leistung betrachtet. Diese „mentale Zeitreise“ hilft, die eigene Entwicklung besser zu erkennen.
Teil 2: Strukturen der Motivation
Im zweiten Teil des Buches geht es um die Strukturen der Motivation, also die richtigen Hilfsmittel, um Hindernisse überwinden zu können.
Grant widerspricht der populären Vorstellung, dass 10.000 Übungsstunden jemanden automatisch zum Experten machen. Es gibt individuelle Unterschiede sowohl bei Menschen als auch bei Tätigkeiten. Wer Exzellenz erreichen möchte, muss sich anstrengen, aber auch Freude am Üben finden. Das Konzept des „Deliberate Play“ hilft, Fähigkeiten angenehmer zu erlernen. Dabei geht es um eine strukturierte Aktivität, um das Aneignen von Fähigkeiten angenehmer zu gestalten. Beim Tennis kann man beispielsweise versuchen, möglichst viele Aufschläge hintereinander zu schaffen, um dem Fortschritt etwas Spielerisches zu geben. So tritt man gegen sich selbst an und entwickelt seine Fähigkeiten. Gewinnt man gegen einen Gegner, kann man dies möglicherweise auch selbst ohne besser zu werden.
Lernerfahrungen sind keine lineare Entwicklung vom Anfänger bis zum Profi. Der Weg zum Kompetenzgipfel verläuft oft in Schleifen. Es kann sinnvoll sein, ein paar Schritte zurückzugehen und einen neuen Weg einzuschlagen. Wichtig ist, den eigenen Kompass im Blick zu behalten und die Richtung regelmäßig zu überprüfen.
Expertenwissen und Lernerfolge
Um wirklich Expertise aufzubauen, sollte man nicht nur von den Besten lernen. Studien zeigen, dass Erstsemester schlechter abschnitten, wenn sie von Experten unterrichtet wurden. Experten haben oft viel implizites Wissen, das schwer zu erklären ist. Der „Fluch des Wissens“ kann dazu führen, dass Experten nicht mehr wissen, wie es ist, Anfänger zu sein. Es ist oft nicht hilfreich, den Weg eines Experten nachzugehen, da jeder unterschiedliche Stärken und Schwächen hat und in verschiedenen Kontexten agiert.
Ein Beispiel dafür ist Albert Einstein. Seine Kompetenz war unbestritten, aber seine Studierenden wussten zu wenig, und es gelang ihm nicht, seine Vorlesungen zielgruppengerecht zu strukturieren, sodass er trotz seines Rufs vor einem leeren Hörsaal stand.
Um erfolgreich zu sein, muss man die ganze Energie fokussieren und darf sich nicht ablenken lassen – so lautet ein gängiger Glaubenssatz. Grant widerspricht dem jedoch. Studien zeigen, dass Erfolgsgefühle im Nebenjob oder im Hobby zu besseren Leistungen im Hauptjob führen können. Das Gefühl, voranzukommen, beflügelt uns und hilft dabei, neue Energie für die nächste Etappe zu tanken.
Teil 3: Chancensysteme
Wie können wir Schulen, Teams und Organisationen so gestalten, dass das Potenzial der Menschen noch stärker gefördert wird?
Der Psychologe sieht verschiedene Indizien, die dafürsprechen, dass ein wichtiger Faktor darin besteht, das Potenzial aller Schülerinnen und Schüler zu heben und nicht nur das der Begabtesten. In finnischen Schulen lautet ein beliebtes Mantra: „Wir können es uns nicht leisten, ein Gehirn zu verschwenden.“ Die Erfolge zeigen sich auch in den bekannten PISA-Studien, bei denen Finnlands Schüler regelmäßig zu den besten der untersuchten Länder gehören.
Erfolgreiche Teams sind mehr als die Summe der individuellen Intelligenz oder Fähigkeiten. Studien zur Schwarmintelligenz zeigen, dass prosoziale Fähigkeiten wichtiger sind als die kognitiven Fähigkeiten einzelner Mitglieder. Es geht bei den sozialen Fähigkeiten nicht darum, dass sich alle wohlfühlen, sondern dass individuelle Stärken erkannt und geeignete Strategien entwickelt werden, damit das Team motiviert ein Ziel erreicht.
Der Autor beschreibt diese prosozialen Fähigkeiten als den „Kleber“, der aus Einzelgängern ein kooperatives Rudel macht. Er betont auch die wichtige Rolle der Führungskraft, um Verbundenheit im Team zu erzeugen. Leider werden Führungskräfte, wie er mit bedauern feststellt, oft nicht nach ihren Führungskompetenzen ausgewählt. Stattdessen zählen oft Selbstbewusstsein, ausgestrahlte Selbstsicherheit und Redeanteil. Schwätzer und Egoisten sollten jedoch keine Führungsverantwortung tragen.
Eine Metaanalyse zeigt, dass Narzissten häufig in Führungspositionen gelangen, aber die Anforderungen der Rolle am wenigsten effektiv erfüllen. Sie treffen eigennützige Entscheidungen, fördern skrupelloses Verhalten und mindern die Verbundenheit und Zusammenarbeit im Team. Der Autor empfiehlt, Personen in Führungsverantwortung zu wählen, die die Mission des Teams über ihr eigenes Ego stellen und denen die Ziele und die Verbundenheit des Teams wichtig sind.
Recruiting und Potenzialbewertung
Viele Arbeitgeber verlassen sich im Recruiting auf Referenzen und Berufserfahrung. Wer an einer Top-Universität studiert hat oder bei einem renommierten Arbeitgeber tätig war, wird als besonders qualifiziert angesehen. Doch Studien zeigen, dass diese Kriterien weniger sinnvoll sind. Dadurch entgehen ihnen Talente, die keinen Standardlebenslauf vorweisen können. Arbeitgeber achten auch oft auf vergangene Leistungen, die jedoch nur den aktuellen Kompetenzstand widerspiegeln und wenig über das zukünftige Potenzial aussagen.
Der Autor stellt auch fest, dass bei der Beurteilung von Potenzial häufig die Ausführung im Vordergrund steht, während der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben vernachlässigt wird. Jemand, der mühelos eine leichte Aufgabe meistert, wird oft positiver bewertet als jemand, der schwierige Herausforderungen mit viel Anstrengung bewältigt hat. In unserer Gesellschaft wird Potenzial häufig denen zugeschrieben, die kontinuierlich Exzellenz gezeigt haben, während diejenigen übersehen werden, die sich stetig weiterentwickelt und Hindernisse überwunden haben.
Fazit
„Hidden Potential“ greift viele aktuelle Erkenntnisse aus der Wissenschaft auf und bietet spannende Anregungen zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung. Ohne zu behaupten, die ultimative Lösung gefunden zu haben, liefert Adam Grant wertvolle Einsichten und praktische Tipps, zahlreichen Fallbeispiele, die inspirieren und motivieren. Dieses Buch ist eine Leseempfehlung für alle, die ihr eigenes Potenzial und das Potenzial anderer besser ausschöpfen möchten.
Adam Grant: Hidden Potential. Die Wissenschaft des Erfolgs. München: Piper Verlag, 2024, 344 Seiten, 24 Euro
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