Jeder vierte Erwachsene ist chronisch krank. Im Job offen damit umzugehen, kann Vorteile haben. Ein wissenschaftlich fundiertes Online-Tool unterstützt bei der Entscheidung.
Rund 40 Prozent der Menschen in Deutschland leben mit mindestens einer chronischen Erkrankung. Hierzu zählen beispielsweise Krebserkrankungen, Diabetes, Rheuma oder psychische Erkrankungen, aber auch coronare Herzerkrankungen, Multiple Sklerose (MS) oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit chronischer Erkrankungen mit dem Alter zunimmt, berichten bereits rund 20 Prozent der unter 30-Jährigen chronisch erkrankt zu sein, wie Daten des Robert Koch-Instituts zeigen (Güthlin, Köhler & Dieckelmann, 2020).
Obwohl das Thema also allein aufgrund der hohen Anzahl Betroffener große Relevanz hat, ist es in vielen Unternehmen noch „unsichtbar“. Einer der Gründe dafür ist, dass auch ein Großteil der Beeinträchtigungen unsichtbar ist und viele Beschäftigte bevorzugen, Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen erstmal nichts von der Erkrankung zu erzählen.
Allerdings gibt es im Laufe des Arbeitslebens immer wieder Anlässe, die Betroffene vor die Entscheidung stellen, ihre Erkrankung doch anzusprechen. Beispielsweise wenn Verschlechterungen der gesundheitlichen Situation oder Veränderungen der Arbeitsaufgaben dazu führen, dass sie ihre Arbeit nicht mehr so wie früher bewältigen können und ihre Arbeitsfähigkeit gefährdet ist. Dies stellt Betroffene vor einen Entscheidungskonflikt, bei dem Hoffnungen auf positive Konsequenzen (z. B. Anpassungen des Arbeitsplatzes, Unterstützung durch Vorgesetzte und das Kollegium sowie die Erleichterung, die Erkrankung nicht mehr verstecken zu müssen) Ängsten vor Stigmatisierung, Sonderbehandlung oder gar einer Gefährdung des Arbeitsplatzes gegenüberstehen.
Relevanz des sozialen Arbeitsumfelds
Psychologische Entscheidungstheorien gehen davon aus, dass Menschen in Entscheidungssituationen mögliche positive und negative Konsequenzen der verschiedenen Optionen gegeneinander abwägen. Dabei berücksichtigen sie zusätzlich, wie wahrscheinlich das Eintreten der unterschiedlichen Konsequenzen ist und welchen Stellenwert das Eintreten der jeweiligen Konsequenzen für ihr Leben hat. Je mehr mögliche Konsequenzen es gibt und je schwerer abzuschätzen ist, ob sie eintreten werden oder nicht, desto komplexer ist die Entscheidung und desto schwieriger ist es für Betroffene sich zu entscheiden.
Die Frage, ob man auf der Arbeit über die eigene chronische Erkrankung sprechen soll, ist vor diesem Hintergrund als hochkomplexe Entscheidung einzuordnen, da das Eintreten der verschiedenen positiven und negativen Konsequenzen von einer Vielzahl individueller, rechtlicher und beruflicher Rahmenbedingungen abhängt und mit Unsicherheit behaftet ist. Darüber hinaus sind einige der potentiellen Konsequenzen für Betroffene von sehr weitreichender Bedeutung, wie z. B. ein möglicher Verlust finanzieller Absicherung oder sozialer Einbindung. Die Entscheidung kann daher für Betroffene schnell zur Überforderung werden.
Um mehr darüber zu erfahren, wie Betroffene die Entscheidung für oder gegen eine Offenlegung treffen, befragte das Projektteam 274 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit chronischen körperlichen oder psychischen Erkrankungen mittels Online-Fragebogen zu ihren Erfahrungen. Rückblickend sollten sie verschiedene Fragen dazu beantworten, wie es war, als sie darüber nachgedacht haben, ob sie in ihrem Arbeitsumfeld von ihrer Erkrankung berichten wollen oder nicht.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Abwägungsprozesse individuell sehr unterschiedlich sind und dass die Befragten dabei viele verschiedene Teilaspekte berücksichtigen. Bei den betrieblichen Rahmenbedingungen spielen das Teamklima und die Unternehmenskultur eine besondere Rolle. Eine soziale Arbeitsumgebung, die geprägt ist von Vertrauen und einem Gefühl der Sicherheit sowie einem authentischen Interesse an der Gesundheit der Beschäftigten und vorhandenen Unterstützungsstrukturen, reduziert Befürchtungen und erhöht die Bereitschaft, Fragen von Gesundheit und Krankheit auf der Arbeit zu thematisieren. Sie steht außerdem mit positiveren Konsequenzen und einer höheren Zufriedenheit in Verbindung, wenn Betroffene offen mit ihrer Erkrankung umgehen.
Angst verzerrt die Entscheidung
Die Befragung macht auch deutlich, dass viele Befragte erst relativ spät über eine Offenlegung nachdenken, beispielsweise nach längeren krankheitsbedingten Abwesenheiten oder wenn sie befürchten, dass sichtbare Symptome fehlgedeutet werden könnten. Darüber hinaus zeigen die Daten, dass die Angst vor negativen Folgen bei der Entscheidung eine größere Rolle spielt als die Hoffnung auf positive Konsequenzen. Dieses Phänomen ist in der Entscheidungsforschung schon länger bekannt. Die Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky beschreiben in ihrer „Prospect Theory“ (1979), dass menschliches
Entscheidungsverhalten unter Unsicherheit nicht rational ist, sondern durch verschiedene Urteilsfehler verzerrt wird. So nehmen Entscheidende ihren aktuellen Ist-Zustand (in unserem Fall die Nicht-Offenlegung) nicht als eigene Entscheidungsoption, sondern als Referenzpunkt für ihre Entscheidung wahr. Nachteile oder Risiken durch die Aufrechterhaltung der Nicht-Offenlegung werden lediglich als verpasste Gewinne bewertet, währ…
Dr. Jana F. Bauer, Diplom-Psychologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation der Universität zu Köln
Professorin Dr. Dr. Mathilde Niehaus, Diplom-Psychologin, Professur für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln
Veronika Chakraverty, M.Sc. Psychologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation der Universität zu Köln
Anja Greifenberg, M.Sc. Psychologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation der Universität zu Köln