Narzissmus: Fünf Mythen auf dem Prüfstand

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Narzissmus ist nur ein Trend, immer eine psychische Störung und entsteht durch mangelnde Aufmerksamkeit: Viele Mythen um Narzissmus stimmen nur zum Teil – oder sogar gar nicht. Das hat Folgen für den Umgang mit narzisstischen Menschen. Das gilt vor allem für das Arbeitsumfeld.

Der größenwahnsinnige Freund, die selbstgerechte Kollegin, der abwesende Vater und – kurz vor den Präsidentschaftswahlen in den USA – mal wieder Donald Trump: Alles Narzissten! Der Begriff geht einem nicht nur leicht über die Lippen – mittlerweile scheint er im Volksmund auch als Allzweckdiagnose für sämtliche Menschen gebraucht zu werden, die sich irgendwie danebenbenehmen. Allein das Etikettieren einer unliebsamen Person als „Narzisstin“ oder „Narzisst“ verschafft uns ein Gefühl der Genugtuung und vermittelt: Schuld sind immer die anderen!

In jüngster Zeit schießen zudem vermehrt selbst ernannte Narzissmus-Experten wie Pilze aus dem Boden. Sie geben Tipps und Tricks, wie man toxische Beziehungsmuster durchschaut, gefährliche Manipulationstechniken enttarnt, oder sich vor systematischem Machtmissbrauch schützt. Beherzigt man ein paar Hinweise davon im Privatleben oder im Job, ist der Energievampir schnell entlarvt und man kann sich von ihm lossagen. Wie gut, dass sich plötzlich so viele mit komplexen psychologischen Phänomenen auskennen, oder?

Der Autor hat gerade das Buch „Zwischen Egoismus und Exzellenz. Wie Narzissmus unsere Arbeitswelt verändert und was wir tun können“ veröffentlicht. Darin kombiniert er wissenschaftlich fundierte Inhalte mit konkreten Beispielen und praxisnahen Ansätzen, um über Narzissmus im Arbeitskontext aufzuklären: Was ist Narzissmus? Wie erkennt man ihn? Und welche potenziellen Risiken, aber auch Vorteile bringt er mit sich? Der Leser erhält konkrete, praktische Handlungsempfehlungen für den Umgang mit narzisstischen Personen und erfährt wie er diese Eigenschaft im Idealfall zum eigenen Vorteil im Job nutzen kann.

 

Zugegeben: Diese Entwicklung mag bei einigen Erleichterung auslösen, da sie das unangenehme Verhalten ihres Gegenübers nun endlich einordnen können. Narzissmus wird damit zur Schublade, in die viele als schwierig erlebte Menschen ohne Denkaufwand reingesteckt werden können. Diese Praxis ist allerdings überaus problematisch, denn Meinungen, anekdotische Berichte und evidenzlose Werbeversprechen verschieben den Diskurs um Narzissmus. Anstatt auf fundiertes Wissen und empirische Erkenntnisse zu vertrauen, wird die Diskussion zunehmend von subjektiven Einschätzungen, gefühlten Wahrheiten und persönlichen Erlebnissen dominiert. Es ist an der Zeit, die gängigsten Narzissmus-Mythen aufzudecken und damit wortwörtlich Licht ins Dunkel zu bringen.

Mythos 1: Narzissmus ist nur ein Hype

Gerade in Zeiten von TikTok, Instagram & Co. wird Narzissmus leichtfertig als modernes Buzzword abgetan, das lediglich eine Modeerscheinung darstellt. Doch dieser Begriff hat tiefe historische Wurzeln und ist fest in der menschlichen Kultur verankert. Bereits in der griechischen Mythologie wurde mit Narziss ein attraktiver Jüngling beschrieben, der in sein eigenes Spiegelbild verliebt war und letztendlich an dieser Selbstverliebtheit zugrunde ging. Dieses Motiv griff der römische Dichter Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) in seinem Werk „Metamorphosen“ auf und prägte so die Grundlage für den psychologischen Begriff des Narzissmus.

Sigmund Freud (1856-1939), Begründer der Psychoanalyse, erweiterte schließlich unser Verständnis von Narzissmus, indem er ihn als eine Phase der psychosexuellen Entwicklung definierte, in der das Kind seine Libido zunächst auf sich selbst und später auf andere richtet. Wem dieser „Libido-Umschwung“ misslingt, bleibt nach Freuds Theorie in einem narzisstischen Entwicklungsstadium verhaftet. Heutige Psychologen beschreiben Narzissmus durch Merkmale wie überhebliche Selbstwichtigkeit, Mangel an Empathie und arrogante, charmante oder dominante Verhaltensweisen. Diese Charakteristika dienen dazu, das grandiose Selbstbild aufrechtzuerhalten und vor potenziellen Kränkungen zu schützen. Genau das tun Menschen schon seit Jahrhunderten – auch ohne Social Media.

Fakt: Narzissmus ist kein neuer Hype, sondern ein tief verankertes psychologisches Phänomen mit historischen Wurzeln.

Mythos 2: Narzissmus ist (immer) eine Störung

Viele Menschen glauben, dass Narzissmus immer eine psychische Störung darstellt. In Wirklichkeit ist Narzissmus jedoch wie viele andere Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Gewissenhaftigkeit, Schüchternheit oder Intelligenz) graduell in der Bevölkerung verteilt. Das heißt: Die meisten Menschen weisen ein durchschnittliches Maß an narzisstischen Selbstanteilen auf, die nicht pathologisch sind. Nur extreme Ausprägungen von Narzissmus werden als narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) klassifiziert. Diese Diagnose erfordert das Vorhandensein spezifischer Kriterien, die in anerkannten Manualen für psychische Störungen festgelegt sind und mehr als eine Blick- oder Ferndiagnose erfordern (zum Glück!).

Es ist daher überaus wichtig, zwischen „normalen“ narzisstischen Eigenschaften und der klinischen Störung zu unterscheiden. Narzissmus als Persönlichkeitsmerkmal kann in vielen Kontexten vorkommen und sogar Vorteile bieten, wie beispielsweise Charisma, Visionskraft und eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstpräsentation. Die NPS hingegen stellt eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung dar. Diese kommt übrigens wesentlich seltener vor, als viele angesichts der inflationären Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ denken: Der Anteil der Personen, die irgendwann im Leben an einer NPS zu erkranken, beträgt je nach Studie bis zu 6.2 Prozent. Daher sollte man Narzissmus nicht pauschal als Störung abtun, sondern die verschiedenen Nuancen dieser (Persönlichkeits-)Eigenschaft berücksichtigen.

Fakt: Narzissmus ist eine normal verteilte Persönlichkeitseigenschaft und wird nur in extremen Fällen als Störung diagnostiziert. Die Übergänge können dabei fließend sein.

Mythos 3: Narzissmus betrifft nur Männer

Es wird häufig angenommen, dass Narzissmus vor allem ein typisches „Männerproblem“ ist. Studien belegen, dass Männer im Durchschnitt tatsächlich häufiger eine NPS diagnostiziert bekommen und höhere Narzissmuswerte aufweisen als Frauen. Die Unterschiede in den Narzissmuswerten fallen jedoch relativ klein aus. Außerdem: Rund 94 Prozent der Differenzen sind auf andere Faktoren als das Geschlecht zurückzuführen. Beispielsweise spielen gesellschaftliche Erwartungen und Sozialisationserfahrungen eine große Rolle dabei, wie sich Narzissmus bei Männern und Frauen manifestiert. Grob vereinfacht lässt sich sagen: Männer neigen etwas mehr zu offenem Narzissmus (z. B. Dominanzstreben und Aggression), während Frauen tendenziell verdeckte narzisstische Merkmale zeigen (z. B. Selbstabwertung und sozialer Rückzug).

Es sind also auch die geschlechtsbezogenen Rollenerwartungen, die beeinflussen, wie narzisstische Eigenschaften von außen wahrgenommen bzw. von den handelnden Personen ausgedrückt werden – nicht alleine das biologische Geschlecht per se. Hier ein Beispiel: Durchsetzungsstarkes und damit stereotyp maskulines Verhalten wird bei Männern oft positiv gesehen, bei Frauen dagegen eher negativ. Dadurch entstehen geschlechtsspezifische Unterschiede wie bei anderen Eigenschaften, zum Beispiel hohe Empathie, die eher Frauen zugeschrieben wird.

Fakt: Männer zeigen im Durchschnitt leicht höhere Narzissmuswerte als Frauen, doch die Unterschiede sind gering und mitunter von sozialen Rollen geprägt.

Mythos 4: Narzissmus ist dasselbe wie ein hoher Selbstwert

Narzissmus wird oft mit einem hohen Selbstwert gleichgesetzt, doch es gibt gravierende Unterschiede zwischen diesen beiden Eigenschaften. Personen mit einem hohen Selbstwert haben ein stabiles und realistisches Selbstbild, während der Selbstwert von narzisstischen Personen oft zerbrechlich und stark schwankend ausfallen kann. Einen weiteren Unterschied gibt es in den Glaubenssätzen in Bezug auf das eigene Selbst: Narzisstische Personen glauben, anderen überlegen zu sein und sehen das Leben als Wettbewerb, in dem ihr Erfolg den Misserfolg anderer bedeutet (und umgekehrt). Diese Annahme wird als „Nullsummendenken“ bezeichnet.

Personen mit hohem Selbstwert hingegen sehen andere auf Augenhöhe und sind in der Lage, stabile und gesunde Beziehungen zu führen. Sie verfügen zudem über ein positives Selbstbild und reagieren weniger stark auf potenzielle Bedrohungen ihres Selbstwertgefühls. Im Gegensatz dazu müssen narzisstische Personen ständig ihre Überlegenheit beweisen und sind oft empfindlich gegenüber Kritik – selbst dann, wenn diese gar nicht als solche gemeint war.

Fakt: Narzissmus und hoher Selbstwert sind grundverschieden. Narzissmus ist geprägt von einem unrealistischen Selbstbild und Überlegenheitsgefühlen, während ein hoher Selbstwert auf einer realistischen Selbstwahrnehmung basiert.

Mythos 5: Narzissmus entsteht durch mangelnde Anerkennung

Ein beliebter Mythos aus der psychoanalytischen Tradition besagt, dass Narzissmus durch mangelnde Anerkennung entsteht. Ein klassisches Beispiel: Das Kind zeigt stolz sein selbst gemaltes Krakelbild, das die Eltern mit einem langweiligen Blick beiseitelegen. Die Resonanz bleibt aus, das Kind entwickelt das Gefühl, nicht gesehen zu werden und sehnt sich fortan nach Anerkennung. Aktuelle Studien zeigen zunächst: Narzissmus ist zu etwa 50 Prozent erblich bedingt. Doch was ist mit den restlichen 50 Prozent? Die Erziehung spielt tatsächlich eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Narzissmus, aber anders als bisher angenommen.

Während mangelnde Anerkennung in der Kindheit auch eine Rolle bei der Entwicklung von Narzissmus spielen kann, zeigen aktuelle empirische Studien, dass eher das Gegenteil – übermäßige elterliche Zuwendung und Lob – zur Entwicklung narzisstischer Tendenzen beiträgt. Bezogen auf das Beispiel heißt das konkret: Wenn das Kind für jede Kritzelei in den Himmel gelobt wird und ihm ständig vermittelt wird, dass es etwas Besonderes ist („Du bist ein wahrhafter Künstler!“), entwickelt es ein überhöhtes Selbstbild. Infolgedessen entwickelt das Kind ein Gefühl des Anspruchs und sucht kontinuierlich nach Bestätigung.

Fakt: Narzissmus wird durch eine Kombination aus genetischen und Umweltfaktoren beeinflusst. Übermäßige Anerkennung und Lobhudelei tragen zur Entwicklung narzisstischer Tendenzen bei, weniger die fehlende Anerkennung.

Ein Plädoyer für eine evidenzbasierte Betrachtung

Im Umgang mit Narzissmus ist es entscheidend, auf wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zurückzugreifen. Nur durch Expertise, die über das reine Erfahrungswissen hinausgeht, kann man das Phänomen in seiner Komplexität richtig erkennen, verstehen und angemessen damit umgehen. Verlässt man sich hingegen auf Mythen und Halbwahrheiten, riskiert man, Menschen mit narzisstischen Tendenzen vorschnell zu verurteilen und unangemessen zu behandeln. Dies schadet nicht nur den betroffenen Personen selbst, sondern kann auch das Arbeits- und private Umfeld negativ beeinflussen.

Was viele nicht sehen (oder sehen wollen), ist außerdem, dass Narzissmus neben seiner dunklen Seite eine mindestens genauso helle Seite aufweist: Narzisstische Personen können in Krisensituationen Halt und Orientierung vermitteln, trotz ungünstiger Wirtschaftsprognosen eine unternehmensrettende Investitionsentscheidung treffen oder mit ihrem überzeugenden Auftreten Menschen inspirieren und Innovationen vorantreiben. Kritisch ist, dass der Übergang zwischen funktionalen und dysfunktionalen narzisstischen Verhaltensweisen meist nahtlos verläuft und stets ein Gleichgewicht gefunden werden muss, um das Optimum von Narzissmus und die damit verbundenen Vorteile zu heben, ohne die Kosten außer Acht zu lassen.

Man ahnt es schon: Diese Aufgabe ist nicht mit ein paar Kalendersprüchen zu bewerkstelligen, sondern erfordert eine tiefgehende Auseinandersetzung mit narzisstischen Dynamiken. Diese Auseinandersetzung führt einen über kurz oder lang auch zum eigenen Selbst. Denn auch wir als vermeintlich Außenstehende haben unseren Anteil am narzisstischen Geschehen, da wir oft unbewusst zur Aufrechterhaltung von Narzissmus beitragen (z. B. durch Bestätigung narzisstischen Verhaltens). Narzisstische Personen suchen also nicht nur die Bühne, sondern sie wird ihnen auch gegeben – gut ausgeleuchtet und bereit für ihren Auftritt.

Wenn Sie sich für Narzissmus interessieren, dann empfehle ich Ihnen mein neues Buch „Zwischen Egoismus und Exzellenz“, das kürzlich im Haufe-Verlag erschienen ist. Darin kombiniere ich wissenschaftlich fundierte Inhalte mit konkreten Beispielen und praxisnahen Ansätzen, um über Narzissmus im Arbeitskontext aufzuklären: Was ist Narzissmus, wie erkennt man ihn und welche potenziellen Risiken, aber auch Vorteile bringt er mit sich? Sie erhalten konkrete, praktische Handlungsempfehlungen für den Umgang mit narzisstischen Personen und erfahren, wie Sie diese Eigenschaft im Idealfall zu Ihrem eigenen Vorteil im Job nutzen können.

Weitere Literatur

Fatfouta, R. (2024). Zwischen Egoismus und Exzellenz: Wie Narzissmus unsere Arbeitswelt verändert und was wir tun können. Freiburg: Haufe Verlag

Professor Dr. habil. Ramzi Fatfouta

Dr. habil. Ramzi Fatfouta, Promotion in Psychologie, M.Sc. Psychologie, Principal HR Diagnostics & Development Concepts bei der Bundesdruckerei, Berater und systemischer Coach in Berlin

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