Informelles Lernen macht den größten Teil des arbeitsbezogenen Lernens aus. Doch wenn Organisationen es vereinnahmen und fördern, wird es gehemmt. Eine Studie zeigt die Widersprüchlichkeiten beim informellen Lernen und wie sie wahrgenommen werden.
Die heutige Arbeitswelt wird oft als schnelllebig, unsicher, komplex und ambivalent wahrgenommen. Widersprüchliche Anforderungen prägen Organisationen und machen daher auch nicht vor den Aufgaben der Personalentwicklung halt. Ganz konkret zeigen sie sich beim arbeitsbezogenen Lernen, also Lernen während der und für die Arbeit. Paradox kann es beispielsweise werden, wenn Organisationen das Lernen der Mitarbeitenden, das informell stattfindet, für sich nutzbar machen wollen und dieses dadurch ironischerweise verhindern, statt es zu fördern.
Informelles Lernen ist neben dem formalen und dem selbstregulierten Lernen Teil des Dreiklangs des arbeitsbezogenen Lernens (Decius, 2024). Es findet immer dann statt, wenn Mitarbeitende bei der Arbeit mit eigenen Lösungsideen experimentieren, sich Feedback einholen und über ihre Arbeitsaufgaben reflektieren. Damit grenzt sich informelles Lernen vom formalen Lernen ab, das in klassischen Fortbildungen, Seminaren und Trainings außerhalb der normalen Arbeitsumgebung stattfindet. Beim formalen Lernen werden Lernziele, Inhalte und der Ablauf von außen vorgegeben. Ebenso unterscheidet sich informelles Lernen vom selbstregulierten Lernen. Denn dort werden die Ziele, Inhalte und Prozesse durch die Mitarbeitenden selbst festgelegt, beispielsweise bei der freiwilligen, gezielten Rezeption von Lernvideos im Intranet oder Internet.
Im Gegensatz zum selbstregulierten Lernen steht beim informellen Lernen die Lösung eines konkreten Problems im Vordergrund und nicht das Lernen als Selbstzweck. Die Probleme bestimmen somit Ziele, Inhalte und Prozess des Lernens. Ein Vorteil des informellen Lernens ist, dass das so gewonnene neue Wissen direkt angewendet wird und zur Verbesserung der Arbeit beitragen kann, indem Probleme im Alltag unmittelbar gelöst werden. Lernen und Anwendung fallen zusammen und so besteht auch keine Transferlücke, also ein Unterschied zwischen dem, was gelernt wird, und dem, was vom Gelernten angewendet werden kann. Große Transferlücken sind eine typische Herausforderung beim formalen Lernen (Kortsch et al., 2024).
Schätzungen zu Folge machen informelle Lernprozesse den größten Teil des arbeitsbezogenen Lernens aus. Dies ist Anlass für viele Organisationen, informelles Lernen der Mitarbeitenden aktiv steigern zu wollen, um den erhofften Nutzen für die Arbeitsleistung zu maximieren (Decius, 2020). Die Wirkung ist jedoch oft eine andere.
Informelles Lernen von Organisationen vereinnahmt
Mitarbeitende tauschen sich ständig aus – während der Arbeit, in Pausen und auch außerhalb der Arbeitszeit. Dabei teilen sie Wissen und Erfahrungen, holen sich Tipps ein und geben sich gegenseitig Ratschläge. Diese Art des von Beschäftigten initiierten Lernens ist für Organisationen sehr attraktiv, braucht es doch keine teuren Trainings, und die Lernerfolge sind unmittelbar sichtbar. Da ist es auf dem ersten Blick naheliegend, dass Organisationen diese Art des Lernens nicht dem Zufall überlassen wollen. Die Folge: Die Chefin lädt dann zum Frühstück ein, in dem alle über ihre Erfahrungen berichten sollen. Doch damit wird das informelle Lernen formalisiert und verliert seine informelle Natur. Dies kann sogar zu paradoxen Effekten führen: Informelles Lernen wird nicht gefördert, sondern gehemmt.
Ergebnisse aus einer Interviewstudie (Boud et al., 2009) illustrieren dies anschaulich: Die Führungskräfte einer Behörde hatten beobachtet, dass sich einige Mitarbeitende aus dem Außendienst hin und wieder zu einer gemeinsamen Mittagspause trafen und dort Erfahrungen austauschten. In der Absicht, etwas Gutes zu tun, wurden monatliche Tee- und Kaffeerunden verpflichtend eingeführt. Doch in diesen Runden schwiegen sich die Mitarbeitenden nur an. Was hierdurch deutlich wird: Die Vereinnahmung des informellen Lernens durch die Organisation birgt das Risiko, dass die intrinsische Motivation der Beschäftigten zum Lernen untergraben wird. Die Möglichkeit zum Lernen wird dann schnell als Aufgabe wahrgenommen, die abgehakt werden soll oder gar Widerstände auslöst. Aus einem lebhaften und produktiven Austausch wird ein Pflichttermin ohne großen Anreiz. Für Unternehmen stellt sich daher die Frage, inwiefern man informelles Lernen fördern oder strukturieren kann, ohne es zu (zer)stören. Inwieweit informelles Lernen unberührt bleiben oder strukturiert werden sollte, gilt somit als Spannungsfeld des arbeitsbezogenen Lernens in Unternehmen.
Dieses Fallbeispiel zeigt den paradoxen Effekt, den gute Absichten des Managements im Fall des informellen Lernens auslösen können. Dem Paradoxon liegt ein Zielkonflikt zu Grunde, der für das informelle Lernen charakteristisch ist: Sollen Organisationen das informelle Lernen vollständig den Mitarbeitenden überlassen oder es zumindest ein Stück weit formalisieren? Solche Zielkonflikte stellen potenzielle Paradoxien dar. Allerdings müssen theoretisch angenommene Paradoxien in der Praxis nicht als solche erlebt werden. Möglicherweise finden sich pragmatische Lösungen für solche Probleme. Daher stellt sich die Frage: Wie häufig kommen solche Spannungsfelder überhaupt in der Praxis vor und als wie widersprüchlich werden sie erlebt?
Wie Praktiker und Praktikerinnen Spannungsfelder erleben
Diese Frage war Ausgangspunkt einer Studie mit dem Titel „Paradoxes in work-related learning—and how they are perceived by practitioners“, erschienen in der Zeitschrift Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (Paulsen et al., 2024). Im Artikel wurden neben dem informellen Lernen noch zwei weitere Formen des arbeitsbezogenen Lernens (d. h. formales und selbstreguliertes Lernen) betrachtet. Für das die Lernformen wurden aufbauend auf der Typologie von Schad und Kollegen und Kolleginnen (2016) drei lernrelevanten Dimensionen organisationaler Zielkonflikte (d. h. Stabilität vs. Veränderung, Exploration vs. Exploitation, sowie Kurzfristigkeit vs. Langfristigkeit) unterschieden, sodass sich pro Lernform drei Spannungsfelder Lernen ergeben, die zu paradoxen Situationen führen können.
Die Autoren der genannten Studie untersuchten, wie diese Spannungsfelder in der Praxis wahrgenommen werden. Die befragten 113 Frauen und Männer, die als Personaler, Organisationsentwicklerinnen sowie Berater und Trainer tätig waren, sollten die Spannungsfelder nach ihrer Häufigkeit und ihrer wahrgenommenen Widersprüchlichkeit bewerten.
Wir fokussieren uns hier auf das informelle Lernen und die korrespondierenden drei Spannungsfelder, weil sich hier besonders Spannungsfelder zu entzünden scheinen. Die anderen Lernformen sind nicht Gegenstand dieses Blog-Beitrags sind. Konkret ging es um folgende Spannungsfelder beim informellen Lernen:
Informelles Lernen unberührt und somit wahrhaftig „informell“ belassen vs. Informelles Lernen strukturieren und somit „formalisieren“
Bei diesem Gegensatz entzündet sich das allgemeine Spannungsfeld zwischen Exploration und Exploitation beim informellen Lernen. Es ist sowohl wichtig, den Freiraum zu lassen, damit neue Dinge exploriert werden können, als auch Lernen effizient zu gestalten und Lerngelegenheiten zu nutzen und zu verwerten. Die empirischen Ergebnisse der Studie zeigen: Fälle, bei denen informelles Lernen durch Strukturierung und Formalisierung gestört und die angenommenen positiven Ergebnisse ins Gegenteil verkehrt werden, wie es in der Studie von Boud et al. (2009) beschrieben wurde, werden in der Praxis lediglich als moderat widersprüchlich beurteilt. Außerdem treten sie nur selten auf.
Zum Experimentieren motivieren, denn Fehler werden als Lernquelle angesehen vs. vom Experimentieren abhalten, denn Fehler verursachen Mehraufwand
Diesem Zielkonflikt liegt das Spannungsfeld zwischen Stabilität und Veränderung zu Grunde. Gemäß den empirischen Studienergebnissen stellt dieses Spannungsfeld den größten Widerspruch dar. Einerseits besteht das Ziel, Mitarbeitende dazu zu motivieren, bei der Arbeit neue Herangehensweisen auszuprobieren, auch wenn dabei zunächst Fehler passieren. Aus dieser Perspektive werden Fehler als Lernquelle gesehen. Andererseits möchten Unternehmen in der Regel Fehler möglichst vermeiden, um den zusätzlichen Aufwand zu reduzieren, den sie verursachen können. Fehler werden in diesem Fall eher als Kostenfaktor gesehen. Während in modernen, agilen Managementansätzen dem Experimentieren und damit auch Fehlern ein hoher Wert zugeschrieben („Fail fast, learn fast“), sind andere Ansätze wie der aus Japan stammende kontinuierliche Verbesserungsprozess Kaizen darauf ausgelegt, Verschwendung und Fehler zu reduzieren – frei nach dem Motto „Never change a running system“.
Auf dem ersten Blick erscheint angesichts weit verbreiteter Forderungen nach einer positiven „Fehlerkultur“ überraschend zu sein, dass lernhinderliche Fehlervermeidung im beruflichen Alltag offenbar noch verbreitet ist. Denn die meisten Fehler haben bei hohem Lernpotenzial auch geringe Folgen, wenn beispielsweise ein Mitarbeiter beim Montieren eines Geräts ein Bauteil in der falschen Reihenfolge einsetzt, den Fehler aber schnell bemerkt und fortan genauer auf die Montageanleitung achtet. Auf dem zweiten Blick ist es jedoch plausibel, dass Experimentierräume nicht unbegrenzt geschaffen werden können, und je nach Kontext und Branche manche Fehler auch schwerwiegende Konsequenzen haben (z. B. Aufsicht im Atomkraftwerk), während dies bei anderen nicht der Fall ist (z. B. Design von Broschüren).
Obwohl die empirischen Ergebnisse der Studie von Paulsen und Kollegen (2024) diesem Gegensatz eine hohe Widersprüchlichkeit attestieren, tritt er nur selten auf. Grund für die geringe Verbreitung in der Praxis könnte sein, dass viele Organisationen – je nach Kontext und Branche – das Spannungsfeld in die ein oder andere Richtung auflösen und entweder Experimentierräume vorsehen oder Fehler minimieren. Die hohe Widersprüchlichkeit führt jedoch dazu, dass dieses Spannungsfeld nicht außer Acht gelassen werden sollte. Andernfalls besteht das Risiko, dass inkonsistente Signale seitens der Organisation gesendet werden.
Bei Problemen auf weniger aufwändige, kurzfristig wirksame Lösungen setzen vs. bei Problemen auf aufwändigere, langfristig wirksame Lösungen setzen
Dieser Zielkonflikt ergibt sich aus einem Spannungsfeld unterschiedlicher Zeitperspektiven, genauer gesagt zwischen Kurzfristigkeit und Langfristigkeit. Je nach Situation kann es sinnvoller sein, eine schnelle, wenig ausgereifte Lösung umzusetzen, oder mit Blick auf die Zukunft mehr Ressourcen in eine nachhaltige, eventuell in der Entwicklung mit mehr Wartezeit verbundene Lösung zu investieren.
Ein Problem lässt sich beispielsweise schnell lösen, indem beispielsweise ein „Workaround“ gelernt wird. Eine solche provisorische Lösung, die das Problem umgeht, ohne es vollständig zu beheben, kann jedoch einem tiefgreifenderen Lernen entgegenstehen. Wenn ein Mitarbeiter beispielsweise für wiederkehrende Beschwerden von Kunden oder Kundinnen zu einem bestimmten Thema eine Standardantwort entwickelt, ist damit das Problem vielleicht kurzfristig behoben; es findet dann vermutlich aber kein Verständnis des zugrundeliegenden Problems statt. Mit anderen Worten: Man findet durch den Workaround einen Umgang für das akute Problem und löst es für den Moment, doch es tritt immer wieder auf. Die Ergebnisse der Studie zeigen zu diesem Spannungsfeld, dass Praktiker vergleichsweise häufig damit konfrontiert sind. Das Spannungsfeld wird zudem als moderat widersprüchlich beurteilt. Hier scheint also vergleichsweise hoher Handlungsbedarf vorzuliegen.
Zusammengefasst zeigte sich, dass es viele häufig auftretende, aber geringfügig widersprüchliche Paradoxien und einige sehr widersprüchliche, aber selten auftretende Paradoxien gibt. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass auch moderate Widersprüche in der Praxis Aufmerksamkeit verdienen.
Aufbau von Metakompetenzen
Wie kann man also konstruktiv mit den drei Spannungsfeldern des informellen Lernens umgehen? Ein erfolgsversprechender Ansatz liegt im Aufbau sogenannter Metakompetenzen wie dem “Lernen lernen“ (Decius, 2020). Wenn Mitarbeitende wissen, wie sie persönlich am besten lernen können, steigt die Chance, dass sie von selbst die Balance aus Experimentieren und Fehlervermeidung finden. Ein kompetenter Umgang mit Fehlern beginnt damit, Fehler als unvermeidbar anzusehen, sie vorherzusehen und zu verhindern, sowie aus ihnen zu lernen und die gemachten Erfahrungen zu teilen (Frese & Keith, 2015). So gehen Mitarbeitende flexibel mit Problemen um, ohne dabei das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren.
Der Aufbau von Metakompetenzen und das Fördern einer positiven Lern- und Fehlerkultur können durch die Organisation gefördert werden. Je mehr Mitarbeitende lernbezogene Metakompetenzen entwickeln, desto eher verändert sich auch die Lern- und Fehlerkultur. Eine positive Lernkultur, in der Fehler als Teil des Prozesses gesehen werden, macht dann wiederum den Aufbau von Metakompetenzen wahrscheinlicher (Kortsch et al., 2024). Voraussetzung ist, dass dies von der Organisation unterstützt wird. Eine aktive Rolle nehmen dabei Führungskräfte ein, in dem sie beispielsweise Zeit zum Lernen einräumen, über eigene Lernerfahrungen berichten, und die Vernetzung im Team sowie innerhalb und außerhalb der eigenen Organisationseinheit vorantreiben
Weitere Literatur
Boud, D., Rooney, D. & Solomon, N. (2009). Talking up learning at work: Cautionary tales in co‐opting everyday learning. International Journal of Lifelong Education, 28(3), 323-334. https://doi.org/10.1080/02601370902799077
Decius, J. (2020). Informelles Lernen im Kontext industrieller Arbeit – Konzeptualisierung, Operationalisierung, Antezedenzien und Lernergebnisse (Dissertation). Universität Paderborn. http://dx.doi.org/10.17619/UNIPB/1-1072
Decius, J. (2024). Das Potenzial des informellen Lernens am Arbeitsplatz: Ein Überblick zum Status Quo und eine Forschungsagenda. Psychologische Rundschau. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000686
Frese, M., & Keith, N. (2015). Action errors, error management, and learning in organizations. Annual Review of Psychology, 66(1), 661-687. https://doi.org/10.1146/annurev-psych-010814-015205
Kortsch, T., Decius, J., & Paulsen, H. (2024). Lernen in Unternehmen – formal, informell, selbstreguliert. Praxis der Personalpsychologie, Vol. 43. Hogrefe. https://doi.org/10.1026/03093-000
Paulsen, H., Kortsch, T., & Decius, J. (2024). Paradoxes in work-related learning—and how they are perceived by practitioners. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO), 1-12. https://doi.org/10.1007/s11612-024-00755-3
Schad, J., Lewis, M. W., Raisch, S., & Smith, W. K. (2016). Paradox research in management science: Looking back to move forward. Academy of Management Annals, 10(1), 5-64. https://doi.org/10.5465/19416520.2016.1162422
Dr. Hilko Paulsen, Diplom-Psychologe, Leiter des Teams Personalentwicklung und Ausbildung der Regionalverwaltung Hannover
Professor Dr. Timo Kortsch, M. Sc. in Psychologie, Professor für Wirtschaftspsychologie an der IU Internationale Hochschule mit Sitz Erfurt und lehrt dort im Fernstudium
Dr. Julian Decius, M. Sc. in Psychologie, Leiter des Arbeitsgebiets Organisationspsychologie an der Universität Bremen, Foto: Lukas Klose, Uni Bremen