Smart Thinking für das dritte Jahrtausend. Kritisch denken, mit Unsicherheit umgehen, besser entscheiden

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Um in unserer komplexen Welt sinnvolle Entscheidungen zu treffen und effektiv mit anderen zusammenzuarbeiten, müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren: die Relevanz der Informationen, die Zuverlässigkeit der Quellen und die Qualität der Faktenbasis. Ob als Individuum, Team oder Gesellschaft – wir alle kämpfen mit einer überwältigenden Informationsflut, die uns verwirrt und herausfordert. Wie können wir uns auf die Fakten einigen, wenn wir Informationen unterschiedlich filtern und interpretieren und andere Werte teilen? Die Chancen und Risiken, die durch Künstliche Intelligenz entstehen, wenn Informationen manipuliert oder komplett generiert werden, machen diese Herausforderung noch größer.

Bauchgefühl und Evidenz

In unserer Not mit der Informationsflut und Komplexität, verlassen wir uns oft zu leicht auf unser Bauchgefühl. Wir orientieren uns daran, was sich stimmig anfühlt und was in unserer Gruppe, mit der wir uns identifizieren, als Fakt und Meinung postuliert und akzeptiert wird. Dabei neigen wir dazu, unsere Meinung zu bestätigen.

Die Autoren dieses Buches möchten dabei helfen, geeignete Strategien im Umgang mit der Informationsüberflutung zu entwickeln, die zu guten Entscheidungen führen und nicht nur zu solchen, die sich gut anfühlen. Sie möchten das wissenschaftliche Denken verbreiten, damit wir alle klarer denken, rationaler diskutieren und effektiver in Entscheidungsprozessen zusammenarbeiten.

Die drei Autoren sind Saul Perlmutter, Nobelpreisträger in Physik und Professor für Physik an der University of California in Berkeley, John Campbell, Professor für Philosophie an der gleichen Universität, und Robert MacCoun, Sozialpsychologe und Professor für Jura an der Stanford University.

Realität und Werteabwägungen

Im ersten Teil des Buches geht es darum, wie die Realität überhaupt begriffen wird. Wissenschaft und ihre Methoden sind oft kompliziert, und um wirklich Expertise in einem kleinen Teilgebiet zu erlangen, dauert es viele Jahre. Dennoch beschreiben die Autoren Methoden der Wissenschaft, die es ermöglichen, die Qualität einer Studie oder die Aussagen eines „Pseudoexperten“ zu hinterfragen. Niemand muss Medizin studiert haben, um zu erkennen, dass eine Studie zur Wirksamkeit der Homöopathie an nur zehn Probanden und ohne Kontrollgruppe von geringer Qualität ist. Grundlegende Kenntnisse im wissenschaftlichen Denken können dabei helfen, einzuschätzen, ob das, was uns als Fakt präsentiert wird, nützlich ist oder uns nur täuschen oder instrumentalisieren will.

Die Autoren betonen auch, dass es nicht nur um Fakten geht, sondern oft auch um Werteabwägungen, die sie als Gegenpol der Faktensuche und Annäherung an die Realität oder Wahrheit bezeichnen. Diese können aus familiären, ideologischen oder religiösen Quellen stammen oder auch durch die Unternehmenskultur vorgegeben sein, die wertekonformes Entscheiden und Handeln erwartet. Doch keine Sorge, die Autoren möchten keine Expertokratie, sondern sprechen sich für die Freiheit in einer liberalen Demokratie aus, eigene Entscheidungen zu treffen oder sachlich bessere Empfehlungen abzulehnen. Sie erläutern auch die Unterschiede, ob Entscheidungen für einen selbst, einen nahen Verwandten oder auf gesellschaftlicher Ebene (z.B. Motorradhelmpflicht) getroffen werden. Die Diskussion ist spannend, gerade vor dem Hintergrund der sich immer weiter entwickelnden Künstlichen Intelligenz (KI). Es stellt sich die Frage, ob wir Entscheidungen den Experten oder zukünftig mächtigeren KIs überlassen sollten? Wie wollen und sollten wir ein gutes Gleichgewicht zwischen Expertise, Wertevorstellungen und Autonomie finden?

Unsicherheiten verstehen

Wie nähern sich Wissenschaftler der Realität an? Wie wird zwischen einem überzufälligen Zusammenhang (Korrelation) und einer Ursache-Wirkung (Kausalität) unterschieden? Die beste Möglichkeit, Kausalität in Experimenten zu testen, besteht darin, Kontrollgruppen einzuführen und Probanden zufällig zuzuweisen. Idealerweise geschieht dies so verblindet, dass niemand weiß, wer in welcher Gruppe ist. Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass Kausalitäten mit Vorsicht zu genießen sind, da unsere Vorstellungen oft lückenhaft und unterkomplex sind. Wie man dennoch damit umgeht, beschreiben sie im zweiten Teil des Buches.

Die Abkehr vom Schwarz-Weiß-Denken in den Wissenschaften zeigt sich durch das Denken in Wahrscheinlichkeiten. Dieser Umgang mit Unsicherheit wird von Pseudoexperten gern als Schwäche dargestellt, ist im Gegenteil aber eine Stärke. Neben dem methodischen Argument, dass wir oft mit unvollständigen Daten arbeiten, gibt es auch ein ganz menschliches. Wissenschaftler können so auch ihr Gesicht wahren, wenn weitere Experimente ihre Ergebnisse widerlegen sollten. Sie sind ja nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit korrekt gewesen, so kann produktiver diskutiert werden, als wenn jede Seite behauptet, die ultimativen Fakten zu besitzen. Die Autoren sehen darin das „Schweizer Taschenmesser des Denkens für das dritte Jahrtausend“, weil es uns hilft, die Welt besser zu verstehen und mit Unsicherheiten besser umzugehen. Nur Pseudoexperten halten am Konzept der Unfehlbarkeit von Experten fest. Doch auch wenn Evidenz mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorliegt, müssen wir entscheiden, wann wie viel Evidenz ausreicht und können in kritischen Situationen (z.B. während der Corona-Pandemie) nicht warten, bis die optimale Evidenzbasis vorliegt.

Optimismus und Machbarkeit

Im dritten Teil geht es um den wissenschaftlichen Optimismus, Lösungen zu finden, selbst für zunächst scheinbar unlösbare Probleme. Diese Machbarkeitshaltung setzt Energie frei und hilft uns, als kognitiv faule Spezies, dabei dranzubleiben. Ob das Konflikte im Team oder die Landung auf dem Mond sind – ohne die Haltung, eine Lösung finden zu können, würden wir es vermutlich meist gar nicht angehen. Daher ist es für einen selbst, sein Team, das Unternehmen oder die Gesellschaft wichtig, daran zu glauben, eine Lösung finden zu können.

Doch das alleine reicht nicht, um Probleme zu lösen. Als nächstes ist es wichtig, die Kausalfaktoren erster Ordnung (wichtig) und zweiter und dritter Ordnung (weniger wichtig) zu unterscheiden, damit man sich auf das Wesentliche konzentrieren kann. Ist dies unklar, kann es hilfreich sein, eine Fermi-Schätzung (benannt nach dem Kernphysiker Enrico Fermi) durchzuführen.

Dabei werden Allgemeinwissen und der gesunde Menschenverstand genutzt, um durch grobe Annahmen die Größenordnung eines Problems abzuschätzen. Sie zerlegt komplexe Probleme in kleinere, besser abschätzbare Teilprobleme und kombiniert diese Schätzungen zu einem Gesamtergebnis. Diese Machbarkeitsinstrumente helfen uns dabei, komplexe Probleme anzugehen.

Im vierten Teil geht es um die vielen Möglichkeiten, wie menschliches Denken in die Irre geführt werden kann. Zunächst wird die interessante Frage aufgeworfen, warum wir nicht einfach durch Erfahrungen lernen sollten? Auch wenn das Bauchgefühl hier die Illusion von Klarheit und Sicherheit erzeugt, zeigen sich in der Praxis viele Fehler. Sei es in der Personalauswahl, wenn diese nicht eignungsdiagnostisch fundiert erfolgt oder bei Berufserfahrenen, wenn die sich schwertun von Uniabsolventen mit aktuell wissenschaftlichem Wissen dazuzulernen.

Auch werden gängige kognitive Verzerrungen vorgestellt, wie die Verfügbarkeitsheuristik, bei der Menschen die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen anhand der Leichtigkeit ihrer Erinnerung einschätzen, und die Bestätigungstendenz, bei der Menschen bevorzugt Informationen suchen und verarbeiten, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen.

Auch Wissenschaftler sind davon betroffen, was einen Einfluss auf die Ergebnisse hat und bestimmte Schattenseiten offenbart. Zum einen gibt es methodisch schlechte Wissenschaft, bei der Fehler erzeugt oder nicht genügend vermieden werden.

Schlimmer ist die pathologische Wissenschaft, die oft als normale Wissenschaft beginnt, bei der aber ab einem bestimmten Zeitpunkt alle Hinweise auf Fehler ignoriert und die Ergebnisse dann stur verteidigt werden. Die Pseudowissenschaft hingegen bedient sich nur der Sprache der Wissenschaft und simuliert ihre Methoden. Also auch das, was wie Wissenschaft aussieht, kann im hohen Maße fehlerbehaftet sein. Durch Methodik, Datenbasis und kritisches Denken besteht aber meist die Möglichkeit, diese Fehler zu erkennen und zu beheben.

Entscheidungen mit anderen

Im vierten Teil geht es um die Rationalität in Gruppen und darum, wie gute Entscheidungen im Austausch mit anderen getroffen werden können. Denn selbst wenn wir alle Fakten haben, sagen diese uns nicht, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden sollen. Dazu bedarf es der Berücksichtigung verschiedener Interessen und Perspektiven.

Doch können Wertekonflikte konstruktiv erörtert werden? Die Autoren stellen einen Prozess vor, der insbesondere bei politischen Entscheidungen eingesetzt werden könnte. Dabei werden Fakten und Werte im Prozess der Entscheidungsfindung systematisch betrachtet, damit auch eine Mehrheit dahintersteht.

Fazit

Auch wenn die Autoren etwas pessimistisch auf die zunehmende Informationsüberflutung und die Polarisierung der Diskurse und Debatten blicken, sind sie doch optimistisch. Sie glauben, dass eine Wissenschaftskultur, die die Errungenschaften des kritischen Denkens, des methodischen Vorgehens, der Datenbasierung und den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten schätzt, einen Beitrag leisten kann, um große und kleine Probleme anzugehen und Lösungen zu finden.

Dafür haben sie ein recht umfangreiches, aber sehr lesenswertes Buch geschrieben – eine Liebeserklärung an die Wissenschaft und ihre Methoden. Es liegt an uns, jetzt die Kurve ins dritte Jahrtausend zu kriegen. Dafür müssen wir an eine bessere Welt glauben und daran arbeiten, ohne den Blick für die Realität zu verlieren.

Saul Perlmutter, John Campbell und Robert MacCoun. Smart Thinking für das dritte Jahrtausend. Kritisch denken, mit Unsicherheit umgehen, besser entscheiden. München: Piper Verlag. 2024, 381 Seiten, 24 Euro

 

 

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