HR-Mythen: Lexikon des Unsinns

In seinem Buch „A skeptic’s HR dictionary“ entlarvt der Belgier Patrick Vermeren auf mehr als tausend Seiten zahlreiche Mythen im HR-Bereich und erklärt, warum Personalverantwortliche oftmals so vehement an unsinnigen Theorien und Modellen festhalten.

Ihr Buch hat mehr als 1100 Seiten. Wie lange haben Sie daran geschrieben?

Mit dem Schreiben habe ich 2015 begonnen, aber natürlich nicht in Vollzeit. Ich habe ja auch noch einen Job als Berater und Coach. Natürlich hatte ich vorher schon sehr viel gelesen und manche Dinge habe ich bereits in meinen bisherigen Büchern behandelt. Aber auch das Schreiben selbst war ein sehr langer Prozess und manchmal wollte ich schon aufgeben. Aber dann habe ich mir gesagt, nein ich muss das jetzt zu Ende bringen. Ich hoffe, dass das Buch wenigstens einen kleinen Beitrag zur Professionalisierung in HR liefert.

Was war Ihre Motivation, das Buch zu schreiben?

Ich weiss natürlich seit langem, wie viel Unsinn und Pseudowissenschaft es im HR-Bereich gibt. Und ich habe den Eindruck, dass es immer schlimmer wird. Es ist wirklich unfassbar, wie immer wieder neue, pseudowissenschaftliche Modelle weltweit verbreitet und genutzt werden. In meinem Berufsleben habe ich immer wieder erlebt, welchen Schaden solche Methoden anrichten können. Menschen wurden wegen unseriöser Tests und Fragebogen gefeuert, sie bekamen wegen fragwürdiger Rekrutierungspraktiken keinen besser bezahlten Job, sie haben unter unsinnigen Assessment Center gelitten und manche haben ihr Selbstvertrauen verloren und sind sogar depressiv geworden. Der zweite Grund ist die enorme Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis. HR-Mitarbeiter wissen oft nicht, was die Wissenschaft längst herausgefunden hat, weil das Wissen überall verstreut ist und oftmals auch nicht öffentlich zugänglich ist, sondern hinter einer Paywall steht. Zudem gibt es viele Modelle und Methoden, die niemals wissenschaftlich untersucht worden sind, weil Forscher sie für zu unsinnig halten, um damit ihre Zeit zu verschwenden. So wird man wohl nie eine kritische wissenschaftliche Evaluation über Dinge wie das Enneagramm oder Pferdecoaching finden. Ich wollte daher ein Buch schreiben, in dem man das alles gebündelt an einem Ort findet.

Wie haben Sie entschieden, was ein Mythos ist?

Basierend auf dem Buch Philosophy of pseudoscience – reconsidering the Demarcation Problem von Massimo Pigliucci und Maarten Boudry habe ich die Theorien, Modelle und ihre Derivate wie Persönlichkeitsfragebogen anhand von zwei Kriterien bewertet: die theoretische Fundierung und die empirische Evidenz. Auf der einen Seite des Spektrums befinden sich schlechte Theorien, die zum Beispiel im Widerspruch zur Physik, Biologie oder Chemie stehen. Auf der anderen Seite stehen Theorien, für die es viele übereinstimmende Ergebnisse aus verschiedene Forschungsbereichen gibt. Bei der Evidenz gibt es auf der einen Seite sorgfältig durchgeführte Reviews wie sorgfältig ausgeführte Metaanalysen von mehreren Forschern. Auf der anderen Seite gibt es systematische Reviews, die eine Theorie widerlegt haben oder sie gilt sowieso als längst überholt. Jedes Modell und jede Theorie habe ich – so objektiv wie möglich – nach diesem theoretisch-empirischen Raster bewertet. Die entsprechende Grafik dazu findet man in jedem Kapitel. Manche Ergebnisse waren dabei echt überraschend für mich. Zum Beispiel, wie schlecht die Forschungslage bei der Positiven Psychologie ist. Ich wusste nicht, dass es da einige Probleme gab und selbst Artikel zurückgezogen wurden. Daher habe ich die positive Psychologie in die Sektion „halbwahr“ eingeordnet. Das ist schon nahe am Mythos.

Warum ist gerade HR so anfällig für Pseudowissenschaft?

Da spielen sicher viele Faktoren eine Rolle. Für mich gibt es vier wesentliche Punkte: Der erste ist ein Mangel an Wissen und Kompetenz. Viele HR-Mitarbeiter können nicht zwischen guter und schlechter Forschung unterscheiden oder beschäftigen sich überhaupt damit. Studien in Belgien und in den Niederlanden haben gezeigt, dass HR Professionals nur sehr geringe Kenntnisse in Psychologie haben. Bei einem Fragebogen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen konnten die meisten nicht einmal die Hälfte der Fragen richtig beantworten. Das fehlende Wissen betrifft sowohl externen Anbieter wie Berater, Trainer und Coaches als auch interne HR-Mitarbeiter und Manager. Das liegt natürlich auch daran, dass es in HR Mitarbeiter mit den unterschiedlichsten Ausbildungen gibt wie Ökonomen und Juristen.

Aber mangelndes Wissen allein ist keine ausreichende Erklärung.

Nein, dazu kommt, dass HR eine besondere Anziehungskraft für Leichtgläubige, Romantiker und Idealisten hat, die ihre Überzeugungen und Erfahrungen für wichtiger und glaubwürdiger halten als die akademische Forschung. Oft wissen sie auch gar nicht, dass sie damit im Widerspruch dazu stehen. HR-Verantwortliche sind häufig platonische Idealisten und glauben daran, dass alle Menschen grundsätzlich gut, talentiert und intrinsisch motiviert sind. Und sie glauben auch stark an Egalitarismus. Ein drittes Problem ist die Psychologie der Koalition. Sobald man sich zu einem virtuellen Stamm oder einer Gruppe (Eng: in-group) rechnet, die an den platonischen Idealismus glaubt, ist es sehr schwer, sich von dieser Gruppe zu distanzieren. Dann will man nicht wahrhaben, dass es auch Menschen gibt, die nicht talentiert oder motiviert sind, weil man Loyalität zu seiner Gruppe zeigen will. Denn bei unseren Vorfahren war das sehr wichtig, da nur die Gruppe Schutz vor den anderen Gruppen und Raubtieren bot. Das steckt noch immer in uns. Wenn HR-Professionals also zu den Anhängern von C.G. Jung gehören und dementsprechend Persönlichkeitsfragebogen MBTI oder Insights Discovery gut finden, reagieren sie feindselig gegenüber Menschen, die ihr Glaubenssystem nicht unterstützen und bezeichnen sie gern als „wissenschaftliche Extremisten“, „Skeptiker“ oder „biologische Deterministen“.

Wir sind also alle Gefangene unseres evolutionären Erbes?

Ja, dazu gehört auch unsere Vorliebe, Autoritäten zu glauben und zu vertrauen. Das ist der vierte Punkt. Die Kombination unser leichtgläubigen Natur – evolutionär machte es Sinn, dass die Kinder von Erwachsenen lernten, um zu überleben – und unsere Faulheit – wir wollen entsprechend des Gesetzes der Thermodynamik nicht unnötige Energie verschwenden – macht uns dafür sehr empfänglich. Denn das ist eben der einfache und energiesparende Weg. Wenn also jemand behauptet, ich bin Psychologe und haben viele Jahre dazu geforscht und veröffentlicht, neigen wir dazu, ihm zu glauben. Das haben Wissenschaftler wie der bekannte Psychologe Robert Cialdini längst bewiesen. Und das wissen auch viele Hochstapler und Betrüger. Sie wissen, dass die meisten Menschen leichtgläubig sind und dazu neigen, anderen zu vertrauen.

Aber das erklärt noch immer nicht, warum HR-Professionals oftmals an fragwürdigen Verfahren festhalten, obwohl längst bekannt ist, dass die Methoden nichts taugen. Warum ignoriert HR also wissentlich die Wissenschaft und gibt den Unsinn nicht auf?

Das ist eine Frage, die Philosophen und Psychologen schon lange beschäftigt. Antworten darauf haben Wissenschaftler wie Robert Cialdini, Anthony Pratkanis oder Jesse Bering gegeben. Pratkanis verweist auf die Rationalisierungsfalle. Sobald ein Verkäufer seinen Fuss in der Tür hat und uns zum Beispiel einen kostenlosen Test anbietet, sitzen wir in der Falle.  Bietet er dann ein weiteres kostenpflichtiges Angebot an und wir nehmen es an, beginnen wir an die Theorie oder das Modell zu glauben, weil wir konsistent bleiben wollen. Sobald diese kritisiert wird, kommt es zur kognitiven Dissonanz, die wir so schnell wie möglich wieder aufheben möchten und daher die Kritik schnell wegwischen. Die nächste psychologische Falle ist der Sunk Cost Bias. Das ist unsere Tendenz, eine Sache zu Ende zu bringen, weil wir ja schon dafür Geld und Zeit investiert haben. Das alles macht es fast unmöglich, Menschen von etwas abzubringen, an das sie glauben.

Das klingt alles nicht sehr ermutigend. Was erhoffen Sie sich daher durch Ihr Buch?

Ich beabsichtige nicht, damit die unerschütterlichen Anhänger zu überzeugen. Das sind diejenigen, die so tief von einem Mythos überzeugt sind, dass jeder Versuch, sie davon abzubringen scheitert oder sogar ihren falschen Glauben daran noch verstärkt. Je emotionaler und ideologischer ihr Glaube ist, desto weniger wirkungsvoll sind meine Darstellungen. Das Buch richtet sich auch nicht an Menschen mit geringen moralischen Ansprüchen, die keine Reue spüren, wenn sie andere betrügen und in die Irre führen. Sie machen Geld damit und werden es nicht aufgeben. Diese beiden Gruppen werde ich also nicht überzeugen und das wäre auch nur Energieverschwendung. Mein Ziel ist daher die dritte Gruppe. Das sind Menschen mit hohen moralischen Standards, denen bisher einfach die Informationen fehlten, um sich ihre Meinung zu bilden. In Belgien, wo mein Buch schon bekannter ist, gibt es inzwischen viele HR-Professionals, die mein Anliegen unterstützen. Allerdings befürchte ich, dass es gerade in den großen Unternehmen in den Trainings- und Entwicklungsabteilungen viele Mitarbeiter gibt, die an den Unsinn glauben und die sind vermutlich das größte Problem.

In ihrem Buch beschreiben Sie 25 Mythen. Dazu gehören NLP, Leadership Circle, der Persönlichkeitsfragebogen MBTI und das Enneagramm sowie die derzeit sehr verbreitete Theorie von Spiral Dynamics und der Integralen Theorie, die vor allem von Frédéric Laloux in seinem Buch „Reinventing Organizations“ vertreten wird und zu so etwas wie der Bibel für alle New-Work-Vertreter geworden ist. Wenn man ihr Kapitel dazu liest, fragt man sich, warum intelligente Menschen so einen esoterischen Unsinn glauben.

Das ist wirklich erstaunlich. Aber da kommt wieder unsere Neigung zur Faulheit ins Spiel. Ich glaube, wenn ein Unternehmen an das Modell von Frédéric Laloux glaubt, hat vermutlich niemand dort das Buch wirklich gründlich gelesen. Denn schon auf Seite drei schreibt er völligen Unsinn, nämlich dass wir drei Hirne haben. Viele wissen nicht, dass das auf das Modell der acht Stufen menschlicher Existenz des Psychologen Clare Graves zurückgeht, der von der Wissenschaft nie ernst genommen wurde. Und als man seinen Schüler Christopher Cowan fragte, wo denn die empirischen Belege für die Theorie von Graves sind, erzählte er, dass dieser sie in seiner Scheune aufbewahrt und sie beim Aufräumen versehentlich weggeworfen hatte. Sein Modell verleugnet, dass wir ein Produkt der Evolution sind und behauptet, dass wir uns in ruckartigen Quantensprüngen von einer Stufe zur nächsten weiterentwickeln, bis wir eine neue Stufe erreicht haben, auf der wir dem Wettbewerb und Egoismus abschwören und durch und durch gute Menschen werden. Der Amerikaner Ken Wilber hat das Modell in seiner Integralen Theorie aufgegriffen, einer wilden Mischung aus Ideen der traditionellen Philosophie, Mystik, Spiritualität, New Age und Psychologie. Und die wiederum ist die Basis von Frédéric Laloux. Auch er glaubt, dass wir in einer Spiralen förmigen Bewegung aufsteigen und transzendieren und so zu einem idealen Lebewesen werden. Das kommt natürlich gut bei den platonischen Idealisten an, die daran glauben wollen, dass der Mensch prinzipiell gut ist und daher auch alles ohne Führung funktioniert. Die Menschen mögen solche Geschichten. Aber das ist eine totale Verleugnung der modernen Wissenschaft und allem, was wir über Biologie und die menschliche Entwicklung wissen. Spiral Dynamics oder die Integral Theorie sind Ideologien. Das ist eher ein religiöser Ansatz und nicht eine Methode, die Unternehmen dabei unterstützt, produktiver zu werden und sich um das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter zu kümmern. Statt solchen naiven Theorien zu glauben, sollten die Unternehmen lieber die Realität akzeptieren und mit fundierten Methoden an einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen arbeiten.

Sich selbst managende Teams und führerlose Organisationen beschreiben Sie als „Beinahe-Mythos“. Ist also doch was dran?

Wenn ich die beiden Kriterien der fundierten Theorie und der nachweisbaren Evidenz nehme, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass das funktioniert. Führung ist etwas, dass sich in Jahrmillionen bei allen sozialen Lebewesen und auch beim Menschen entwickelt hat. Wir sind ein soziales Lebewesen und da spielt Führung bei der Koordination gemeinsamer Aktionen und der Reduzierung von Konflikten in der Gruppe eine sehr wichtige Rolle. Warum sollen wir nun plötzlich keine Führung mehr brauchen? Es gibt absolut keine Erklärung dafür, warum die Evolution plötzlich einen so bedeutenden Sprung gemacht haben soll. Es gibt einige Theorien dazu wie die soziotechnische Systemtheorie. Aber sie alle kommen letztlich zu dem Schluss, dass es nicht funktioniert. Wenn man die empirische Seite anschaut, sieht es nicht viel besser aus. Es gibt keine Belege für erfolgreiche Organisationen ohne Führung. Das gilt auch für sich selbst managende Teams. Das ist das einzige Kapitel, wo ich mir einige Anekdoten aus Unternehmen angeschaut habe, die behaupten, keine Führung mehr zu haben wie Semco oder Morning Star. Die meisten haben sehr wohl Führung, manchmal sogar sehr stark und autoritär. Selbst diese Anekdoten sind also nicht korrekt. Auch die führerlose Organisation ist etwas, was für viele verlockend klingt und woran sie gern glauben.

Ein anderer Mythos, den Sie beschreiben, ist der Ansatz, dass Führungskräfte Coach für ihre Mitarbeiter sein sollen.

Es ist sehr schwierig und zwar sowohl für Führungskräfte als auch für Mitarbeiter, zwischen den beiden Rollen zu unterscheiden. Denn die meisten Vorgesetzten sind auch für die Leistungsbewertung zuständig und entscheiden daher über die Karriere eines Mitarbeiters. Gleichzeitig sollen sie ihn coachen. Das funktioniert nicht. Für die Mitarbeiter ist das ein Dilemma. Wenn sie ihrem Vorgesetzten vertrauen und über ihre Schwächen und Ängste sprechen, müssen sie befürchten, dass sich das auch auf ihre Bewertung und Karriere auswirkt. Denn diese Informationen sind nun mal im Kopf des Vorgesetzten und spielen daher unbewusst auch bei seiner Bewertung eine Rolle. Nicht ohne Grund verpflichten sich Psychotherapeuten zur Diskretion und dazu, die Informationen nicht für andere Zwecke zu nutzen. Empirische Belege dafür, dass es positive Effekte hat, wenn der Vorgesetze als Coach agiert, gibt es nicht. Auch die Idee, dass Mitarbeiter ihre eigenen Lösungen finden sollen, finde ich im Arbeitskontext sehr unplausibel. Die Mitarbeiter erwarten auch oft Fachwissen von ihrem Chef. Wenn ich mit Knieschmerzen zum Arzt gehe und der mich auffordert, über die beste Lösung für meine Schmerzen nachzudenken, würde ich seine Kompetenz infrage stellen. Denn ich gehe doch dorthin, weil er ein Experte ist. Dazu kommt, dass Vorgesetzte nicht dafür ausgebildet sind, Coachinggespräche zu führen und daher viel Schaden anrichten können.

Auch das Konzept der Achtsamkeit ist bei Ihnen ein Beinahe-Mythos. Gibt es dazu nicht umfassende Forschung?

Das ist ein ziemlich heikles Thema und viele werden sehr verärgert über meinen Ausführungen sein. Ich war selbst durchaus offen für das Thema. Aber dann habe ich mir die Forschung dazu angeschaut habe und war sehr überrascht, wie schlecht sie ist. Bis heute ist man sich nicht mal einig, ob es eher eine ideologische Bewegung oder eine psychologische Theorie ist. Bei einer Metanalyse über die Effekte bei verschiedenen psychischen Störungen wie Depressionen, Ängsten und erhöhten Stress erfüllten nur 19 von 2448 Artikeln die Anforderungen an gute wissenschaftliche Standards. Und dort fand man dann lediglich geringe Effekte bei Hypochondrie, also der unberechtigten Angst an einer Erkrankung zu leiden. Bis heute gibt es keine Evidenz dafür, dass Achtsamkeit bei gesunden Menschen im Arbeitskontext positive Auswirkungen hat. Experimente und Metaanalysen zum Zusammenhang von Achtsamkeit und Motivation zeigen sogar, dass ein Achtsamkeits-Training die Motivation für das Engagement bei künftigen Aufgaben reduziert und nicht einmal finanzielle Anreize diese demotivierenden Effekte wieder aufheben können. Das dürfte kaum im Sinne der Unternehmen sein. Ich behaupte nicht, dass Achtsamkeit überhaupt nicht zu positiven Effekten führt, aber bisher fehlt es einfach an methodisch guter Forschung dazu.

Der größte Teil ihres Buches handelt von Mythen und pseudowissenschaftlichen Methoden und Modellen, Sie beschreiben aber auch wissenschaftlich fundierte Alternativen. Wie wichtig war es für Sie, auch das zu zeigen?

Das ist sehr wichtig, weil viele eben gar nicht wissen, was es bereits alles gibt. Viele wissenschaftliche Modelle oder Instrumente sind nicht öffentlich zugänglich, weil sie nicht für kommerzielle Zwecke entwickelt wurden. Dabei sind sie manchmal sogar preiswerter und bieten bessere und akkuratere Informationen. Der Buchtitel ist vielleicht etwas irreführend. Aber es gibt etwa 400 Seiten über Mythen, ungefähr 250 Seiten über teils wahre Modelle und Methoden und ungefähr 400 Seiten und 15 Kapitel über solide Erkenntnisse.

Was gehört zum Beispiel dazu?

Grundsätzlich sind alle Evidenzen immer nur vorläufig und können durch neue Forschung verbessert oder teils wiederlegt werden. Es gibt nur eine Theorie, die ohne jegliche Zweifel bewiesen ist und das ist die Evolutionstheorie. Ich glaube nicht, dass wir in der Psychologie oder in HR etwas haben, was dem nahe kommt. Die Evolutionspsychologie gibt uns den besten Rahmen für gute Hypothesen. Wir sind nun mal soziale Lebewesen und das hat positive und negative Aspekte. Wir wollen zu einer Gruppe gehören und neigen dazu, innerhalb unserer Gruppe zusammenzuarbeiten und keine unlautere interne Konkurrenz zuzulassen. Das gibt uns wertvolle Hinweise für den Arbeitsalltag. Wenn wir zum Beispiel individuelle Leistungsziele vorgeben, fördern wir damit den internen Wettkampf. Auch zu zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es gute Theorien. Für Verhaltensänderungen bietet die Kognitive Verhaltenstherapie solide Grundlagen. Um die Persönlichkeit zu bestimmen, gibt es die fünf oder sechs wesentlichen Faktoren, die Big Five (OCEAN) oder HEXACO. Die sind sehr sinnvoll beim Coaching. Es gibt viele Ansätze mit starker empirischer Evidenz, etwa wie Ziele die Produktivität steigern können oder wie man Führungsfähigkeiten entwickeln kann. Das Problem ist nur, dass vieles nicht von den Wissenschaftlern promotet wird und daher vielen HR-Professionals unbekannt ist.

Auch wenn Ihr Buch so manchem die Augen öffnen dürfte, fühlen Sie sich nicht manchmal auch wie Sisyphos. Kaum haben Sie einen Mythos enttarnt, taucht der nächste auf?

Leider stimmt das. Der Aufwand an Zeit und Mühe, den es kostet, einen Mythos zu entlarven, ist ungleich höher, als der Aufwand, neuen Unsinn zu erfinden. Zudem riskiert man noch, von den Promotern der Theorie oder Methode verklagt zu werden. Bullshit kann man schnell produzieren. Man erfindet einfach eine Theorie, bereitet sie hübsch auf mit schönen Grafiken und Farben, verpackt sie in eine Marketingkampagne und verdient viel Geld damit. Ich befürchte, der Kampf wird nie aufhören.

Das Interview führte Bärbel Schwertfeger  

Patrick Vermeren ist seit 2001 als Berater und Coach beim belgischen HR-Dienstleister PerCo tätig. Davor war er interner Trainer und Coach bei dem Bankkonzern Dexia in Brüssel und Verkaufstrainer in der Automobilindustrie. Vermeren schrieb mehrere Bücher auf Niederländisch, darunter (jeweils englische Übersetzung): The HR Balloon: 10 Popular Practices Punctured (2006), Around Leadership. Bridging the scientist-practitioner gap (2009), Leading differently (2009) und Around communication. Men as social animal (2013). Der 55-Jährige hat zwei Bachelor-Abschlüsse als Übersetzer und Dolmetscher, diverse Trainings und Weiterbildungen in kognitiver Verhaltenstherapie, Coaching und Psychologie. Er hat wissenschaftliche Artikel (peer-reviewed) veröffentlicht wie: “Integrating leadership: The leadership circumplex” (European Journal of Work and Organizational Psychology (A1 publication – November 2012 online), Autoren: M. Redeker, E. de Vries, Danny Rouckhout, Patrick Vermeren & Filip de Fruyt. Bekannt wurde er auch durch seinen Auftritt bei TEDx im März 2016: The (uncomfortable) truth of HR. Vermeren ist Vorstand der belgischen Skeptikerorganisation SKEPP, die es als ihre Aufgabe sieht, die Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken zu fördern.

 

A skeptic’s HR dictionary: The ultimate self-defense guide for CEOs, HR professionals, I/O students and employees (Englisch). Das englischsprachige Buch kostet 125 Euro und ist über Amazon erhältlich. Darin entlarvt der Autor 25 Mythen, darunter das Alpha Training, die Teamrollen von Belbin, Organisationsaufstellungen, die Persönlichkeitstests DiSC, MBTI und Herrmann Brain Dominance Instrument (HBDI), Leadership Circle, die Transaktionsanalyse und Spiral Dynamics. Zudem beschreibt er 15 halbwahre oder beinahe Mythen wie E-Learning, SMART Ziele, die Positive Psychologie und HR-Analytics.

 

 

 

Bärbel Schwertfeger ist Diplom-Psychologin, seit 1985 freie Journalistin und Chefredakteurin von WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE HEUTE.

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