Coaching für die Gesunden, Psychotherapie für die psychische Kranken – diese kategorische Abgrenzung funktioniert schon lange nicht mehr. Coaches brauchen daher ein fundiertes Grundwissen über psychische Erkrankungen.
Zunehmende Belastungen und Unwägbarkeiten der postmodernen Arbeitswelt führen für viele Berufstätige zu Krisen-Konstellationen, in denen professionelle Unterstützung jenseits der fachlichen Aspekte sinnvoll bzw. nötig wird. Chronischer „Stress“, zumal im Existenz sichernden Beruf, ist ein Faktor, der zur Manifestation und Aufrechterhaltung psychischer Störungen bzw. seelischer Erkrankungen beiträgt. Nach aktuellen psychiatrischen Konzepten sind seelische Erkrankungen „biopsychosoziale“ Phänomene, bei denen genetische Veranlagung, Lerngeschichte und aktuelle Belastungen in unterschiedlicher Gewichtung eine Rolle spielen. Das legt nahe, dass gerade die Personen, die sich in Belastungskonstellationen an einen Coach wenden, ein erhöhtes Risiko haben, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Wenn sich Berufsfelder nach den jeweiligen Aufgabenstellungen ausrichten würden, dann gäbe es heute einen Beruf, der gleichermaßen gut in beiden Bereichen zu Hause ist: Experten für den Umgang mit beruflichen Belastungen und mit psychischen Erkrankungen. Die Realität sieht anders aus.
Coach und Psychotherapeut
Ein Mitarbeiter kommt in eine berufliche Krise: Aufgrund von Ambivalenzen und Entscheidungsproblemen ist seine berufliche Zukunft unklar. Ein Konflikt mit dem Chef eskaliert. Angesichts langer Arbeitszeiten geht seine Beziehung in die Brüche. Der Betreffende schläft schlecht, seine Stimmung ist im Keller, die Konzentrationsfähigkeit leidet, eine Abwärtsspirale… die Probleme im Beruf werden für ihn immer unlösbarer. Was empfiehlt man dem Betroffenen?
Ein beruflich belasteter Mitarbeiter wird zum Patienten
Rät man ihm, sich an einen Psychotherapeuten zu wenden, wird aus dem Mitarbeiter ein Patient. Wenn ein akademischer Therapeut bei ihm eine Diagnose stellt, hat das den Vorteil, dass die vom Patienten in Anspruch genommenen therapeutischen Leistungen von der Krankenkasse bezahlt werden. Der Therapeut muss nach fünf Probesitzungen einen Antrag schreiben, der der Krankenkasse vorgelegt wird. 30 und deutlich mehr Therapiestunden, meist wöchentlich, sind üblich. Der Psychotherapeut hat ein Studium (im Erwachsenenbereich: Medizin oder Psychologie) abgeschlossen und eine mehrjährige Ausbildung zum Psychotherapeuten mit der Approbation bzw. einem Facharzttitel (oder zumindest einer „Zusatzbezeichnung“) absolviert. Seine Praxis ist oftmals voll – in Großstädten warten Privatpatienten aktuell drei bis sechs Monate auf einen Therapieplatz – und sichert ihm ein kalkulierbares gutes – aber kaum exorbitantes – Einkommen.
In seiner Ausbildung hat sich der Psychotherapeut eingehend mit psychischen Erkrankungen sowie mit tiefenpsychologischen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Konzepten beschäftigt. Die individuelle Lerngeschichte auf der einen und die Dynamik der jeweiligen Störungsbilder/Diagnosen auf der anderen Seite sind die zentrale Kriterien, aufgrund derer er den jeweiligen Fall angeht. Berufsbezogene Aspekte sind in den aktuellen Curricula der Therapeutenausbildung eher marginal vorhanden. Die sozialen und beruflichen Rahmenbedingungen ihrer Patienten sind vielen Therapeuten bestenfalls vage bekannt, was aus den Traditionen und Konzepten des Faches und der Biographie der Therapeuten resultiert, die in aller Regel nie längerfristig außerhalb ihres eigenen Berufsfeldes tätig waren. In psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken werden auch aktuell noch die beruflichen Probleme von Patienten vorzugsweise an „die Sozialtherapie“ delegiert. In der Praxis niedergelassener Ärzte werden Patienten, die sich beruflich überlastet erleben, nicht selten quasi reflektorisch krankgeschrieben. Es gilt, den Patienten vor zu großem Druck und Stress zu schützen.
Ein beruflich belasteter Mitarbeiter wird zum Coaching-Klienten
Coaching-Klienten müssen keinen Gedanken daran verschwenden, dass sie psychisch krank sein könnten. Sie haben ein Problem, das gelöst werden muss. Je nachdem, ob man das Problem eher auf der beruflichen (Business-Coach) oder persönlichen Ebene (Personal Coach) verortet, ergeben sich die entsprechenden Weichenstellungen. Die aktuellen seelischen Probleme des Klienten werden dabei als normale Nebenwirkungen der besonderen Umstände verbucht. Die Klienten dürfen – soweit es nicht der Arbeitgeber übernimmt – die Kosten für das Coaching selber tragen. Diese können, auch wenn es deutlich weniger Stunden als in der Psychotherapie sind, beträchtlich sein. Hieraus ergibt sich absehbar ein limitierender Faktor. Die Ausbildung des – als Berufsbezeichnung nicht geschützten – Coachs ist heterogen, was es dem Klienten schwermacht, sich zu orientieren.
Dass sich Coaching-Dachverbände um Qualitätsstandards bemühen, ist aller Ehren wert. Ein entsprechendes Siegel mag das Vertrauen der Kunden erhöhen. Letztlich steht bis dato jedoch jeder Coach für sich selbst, muss sich als Marke positionieren und seinen „Business Case“ erfolgreich realisieren – was einigen gut, wenigen exzeptionell und vielen eher schlecht bis gar nicht gelingt (Graf, 2016). Insbesondere das Internet ist voll von Coach-Homepages, die die Persönlichkeit und das Angebot „umfassend“ bzw. werbewirksam darstellen. Aber was ist welches Zertifikat wert? Was steht konkret an Ausbildung dahinter? Die reicht vom Wochenendseminar bis zu umfangreichen, kostspieligen Ausbildungs-Curricula, deren Schwerpunkt meist in der Anwendungspraxis von Strategien bzw. „Tools“ liegt. Oftmals ist es die eigene substanzielle Berufserfahrung in einem nicht-therapeutischen Bereich, etwa im Management, die einen Coach – parallel zu seiner Coaching-Kompetenz – auszeichnet. Im Idealfall kennt der Coach somit das berufliche Umfeld seines Klienten und verfügt zudem über ein Spektrum an Strategien, mit denen er – ausgehend von einer systematischen Analyse der Problem-Konstellation – mit dem Klienten gemeinsam die Sache angeht. Schwerpunktmäßig denkt er praktisch-strategisch, lösungsorientiert und ausgehend von „Tools“, die er in der Ausbildung praktisch kennen gelernt hat. Seine Kenntnis bezüglich seelischer Erkrankungen ist demgegenüber meist rudimentär und stammt allenfalls aus Skripten und Vorträgen. Er weiß, dass er seelische Erkrankungen nicht behandeln darf. Aber ob er sie erkennen würde? Oft lassen sich psychische Erkrankungen nur erkennen, wenn man systematisch nach den Symptomen fragt. Warum sollte ein Coach das tun? Wenn er die Symptome dokumentiert, brächte er sich in eine potenziell justiziable, absehbar schwierige Situation.
Coaching versus Psychotherapie
Die kategorische Trennung der beiden Welten Coaching und Psychotherapie, dem gesunden Coaching-Klienten versus kranken Psychotherapie-Patienten entsprechen, mag auf dem Papier überzeugend, politisch opportun und allen Beteiligten ein Bedürfnis sein. Mit der Realität hat sie wenig bis nichts zu tun (zuletzt: Hillert und Albrecht, 2020). Zum einen, was die angewendeten Methoden anbelangt, zum anderen weil sich Patienten/Klienten nicht kategorisch trennen lassen. Was die Methoden anbelangt: Im Coaching wie in der Psychotherapie geht es letztlich um nichts anderes als um angewandte Psychologie mit dem Ziel von Verhaltensänderungen („Problemlösestrategien“). Was die Konzepte anbelangt, sind die akademischen Therapeuten hier im Vorteil. Sie haben Entwicklungs- und Lerntheorien, Psychopathologie und therapeutische Strategien gewissermaßen von der Pike auf lernen müssen und wissen, wie sich Symptome bzw. Diagnosen „evidenzbasiert und leitliniengemäß“ behandeln lassen. Sie können mit den Patienten Verhaltensanalysen machen, alternatives Problemlöseverhalten erarbeiten und u.a. Expositionen anleiten.
In der relativ dazu kurzen Coach-Ausbildung bleiben solche „Basics“ zwangsläufig rudimentär. Es geht schnell zur Sache, wobei Tools eingesetzt werden, die die Probleme des Klienten effektiv erfassen und ihn unterstützen, seine Ziele zu erreichen. Wenn man diverse, als persönliche Erfindungen mit Alleinstellungsmerkmal publizierte und in Fortbildungen demonstrierte Tools aus akademischer Distanz analysiert, läuft vieles auf wirksam auf den Punkt gebrachte, angewandte Psychologie und nicht selten auch etwas heiße Luft hinaus.
Akademisches Herumreden, ewig lange Biographie-Erhebungen gehören in der Regel nicht zu dem, was Psychotherapie erfolgreich macht. Je näher man hinschaut, um so mehr verwischen sich die Grenzen. Wirkfaktoren der Psychotherapie sind zum einen die tragfähige (therapeutische) Beziehung zwischen Patient und Therapeut, zum anderen die Erarbeitung eines überzeugenden Erklärungs- und Veränderungsmodells und zum Dritten eine systematische, schrittweise Arbeit an der jeweils angestrebten Verhaltensänderung (vgl. Grawe et al. 2001 mit Greif, 2011). Im Coaching dürfte es kaum anders sein. Wobei der Umstand, dass die Klienten selbst zahlen, kein Unglück sein muss. Was nichts kostet, ist nichts wert. Siegmund Freud ließ sich vor jeder Therapiestunde einen Geldschein auf den Schreibtisch legen. Aber natürlich sollte sich Motivationsförderung nicht darauf beschränken.
Was ist psychische Gesundheit?
Die inhaltlichen Schnittmengen zwischen Psychotherapie und Coaching sind unübersehbar. Liegt der Unterschied somit vor …
Professor Dr. phil. Dr. med. Andreas Hillert, Chefarzt der Medizinisch-Psychosomatischen Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee.