Als der Psychologe Kevin Dutton 2012 in seinem Buch „Psychopathen“ behauptete, psychopathische Merkmale könnten unter bestimmten Umständen durchaus gut sein, bekam er viel Ärger. Heute ist ihm klar, warum. Er hat den Kategorisierungs-Instinkt unseres Hirns gestört.
Warum sorgte ihr Buch über Psychopathen damals so viel Wirbel?
Das habe ich mich damals auch gefragt. Das Buch löste sehr kontroverse Reaktionen aus und ich wurde auch heftig angegriffen. Ich habe mich daher gefragt, warum es so massive Reaktionen gab und es hat eine Weile gedauert, bis ich das verstanden hatte. Vor meinem Buch waren alle zufrieden mit der Kategorie Psychopathen. Sie sind schlecht, egal was sie tun, und wir sind gut. Mit dem Buch habe ich diese Grenze aufgelöst und behauptet, manchmal können auch Psychopathen gut sein und wir können schlecht sein. Es gibt also keine strikte Linie zwischen Psychopathen und dem Rest der Welt. Das war der Grund für den großen Wirbel und der Auslöser für mein neues Buch „Schwarz. Weiß. Denken!“. Heute wird es – vor allem in der akademischen Welt – längst akzeptiert, dass die Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen immer auf einem Kontinuum liegen, bei dem sich die meisten Menschen irgendwo in der Mitte befinden.
Aber die schnelle Zuordnung zur Kategorie Psychopath oder Narzisst scheint heute verbreiteter denn je. Dann heißt es, mein Chef ist ein Egoist und ein Ekel, also ist er ein Narzisst.
Ja, das ist das klassische Schwarz-Weiß-Denken. Wir kleben ein Label auf die Dinge. Um ein Narzisst im klinischen Sinn zu sein, muss man die Persönlichkeitsmerkmale konsistent über einen langen Zeitraum zeigen. Das muss wie ein Lebensstil sein. Ich habe damals in meinem Psychopathie-Buch die Analogie von einem Mischpult vorgestellt, wie es Musiker nutzen. Sie können kein guter Chef sein, wenn sie nicht auch die entsprechende Rücksichtslosigkeit haben, um einen Mitarbeiter mit zu schlechten Leistungen zu feuern oder den Mumm, ein kalkuliertes Risiko einzugehen, wenn es notwendig ist. Je nach Situationen müssen den Regler für diese Charakterzüge eben manchmal etwas aufdrehen. Problematisch wird es erst, wenn Sie das Aufdrehen nicht mehr stoppen oder den Regler zurückdrehen können. Nehmen Sie den Tennisspieler Roger Fedderer. Das ist ein sehr netter Mensch, aber wenn er bei einem Match in Wimbledon im Finale steht, ist er rücksichtslos und hat kein Problem damit, seinen Gegner zu vernichten. Wenn er sich in seinem normalen Leben auch ständig so verhalten würde, hätte er vermutlich viele Probleme.
Warum neigen wir dazu, unsere Welt in Kategorien einzuteilen?
Unser Hirn hat einfach einen Kategorisierungs-Instinkt. Die Kategorisierung macht die Welt einfacher, spart Zeit und macht es leichter, Dinge zu tun. Grenzen schaffen Ordnung und sind oft auch notwendig. Denken Sie an Prüfungen. Wenn wir da keine Linie ziehen zwischen Bestanden und Nichtbestanden, brauchen wir auch keine Prüfungen. Wir benötigen Ordnung in unserer verwirrenden Welt. Stellen Sie sich eine Bibliothek mit Millionen von Büchern ohne jegliche Kategorisierung vor. Wenn Sie dort ein Buch suchen, werden Sie es vermutlich nie finden. Oder ein großes Kaufhaus, in dem es keine Abteilungen gibt und alle Produkte überall sein können. Wir müssen Grenzen ziehen, um die Welt zu vereinfachen, aber sobald wir die Grenzen ziehen, werden die Dinge subjektiv. Das ist doppelschneidiges Schwert. Mit jeder Abgrenzung schafften wir eine Teilung und die wird oft als unfair betrachtet, vor allem wenn man auf der falschen Seite ist.
Die schnelle Kategorisierung kann auch gefährlich sein, weil sie stigmatisiert. Wie kann man Menschen dazu bringen, genauer nachzudenken?
Das ist sehr schwierig, weil unser Hirn von den Schwarz-Weiß-Kategorien gekapert wird. Und das wissen vor allem die Verantwortlichen in den Medien ganz genau. Wenn sie Begriffe wie Narzisst verwenden, dann ist das eine Kategorie, auf die unser Hirn sofort anspringt und ihre Zeitschriften verkaufen sich besser. Zudem arbeitet unser Hirn auch nach dem Prinzip der Einfachheit. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem britischen Topanwalt, der mir erklärte: Informationen schwirren durch unser Hirn wie der Strom in einem Stromkreislauf und nehmen dabei stets den Weg des geringsten Widerstands. Wenn Sie im Gerichtssaal mein Gegner sind, werde ich gewinnen, wenn meine Darstellung leichter und einfacher zu verstehen ist. Da spielt es keine Rolle, ob ich recht habe oder nicht.
Gibt es einen Weg, um diesen Automatismus zu stoppen?
Es gibt eine einfache Strategie. Dabei ist es das Wichtigste, erst einmal anzuerkennen, dass unser Hirn so arbeitet. Wenn uns die Medien Kategorien wie Narzisst hinwerfen, stürzt sich unser Hirn darauf wie auf Fast Food. Das ist wie McDonald´s für unser Hirn. Der psychologische Zucker macht es so abhängig, dass es nicht mehr aufhören kann zu essen und fett und faul wird. Meine Strategie dagegen heißt auf Englisch NICE. N steht für Nuance (Nuancen), I für integrate (integrieren), c für communicate (kommunizieren) und e für empathize (einfühlen). Wir müssen vorbereitet sein, dass es andere Standpunkte als unsere eigenen gibt und sie akzeptieren (Nuance). Daran mangelt es gerade in den sozialen Medien oft. Wer eine andere Meinung hat, den schmeißt man oftmals einfach raus. Zweitens müssen wir uns diesen anderen Standpunkten aussetzen (integrate), drittens müssen wir mit den anderen kommunizieren (communicate) und uns anhören, warum sie andere Ansichten haben…
Bärbel Schwertfeger ist Diplom-Psychologin, seit 1985 freie Journalistin und Chefredakteurin von WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE HEUTE.