Personalauswahl: Der Fehler zweiter Art

Pixabay Daniel Roos

Oder die falsch-negative Personalauswahl.  Von Heinzelmännchen, Alphatierchen, Betafehlern und anderen Wesen.

Wie war zu Cölln es doch vordem
mit ausreichend Personal so bequem!
Denn, war man faul, man legte sich
hin auf die Bank und pflegte sich:
Da kamen bei Nacht,
eh‘ man es gedacht,
die Persönchen und schwärmten
und klappten und lärmten
und rupften
und zupften
und hüpften und trabten
und putzten und schabten
und eh eine Führungskraft noch erwacht,
war all‘ Tagewerk bereits gemacht!

(…)

Alsbald kam eine andre Zeit,
Nachwuchs und geeignete Bewerbende erschienen unendlich weit.
Ungeduldig waren die Führungsriegen,
wollten sie im war for talents doch gerne siegen:
„Personalauswahlprozess?! Den brauchen wir nicht!
Es gibt hier Expertinnen und Experten – so wie mich!
Struktur und Standard ist was für Pfeifen,
Sympathie und Bauchgefühl, mit Erfahrung tuts reifen.“
Von Hölzchen auf Stöckchen springt man im Gespräch –
finden nun in die Organisation geeignete Personen ihren Weg?

Fragen mit Anforderungsbezug lassen sich missen,

Assessment Center mit Weltraummission,
allseits beliebt auch die Glaskugel zur Unternehmensvision.
Geeignet oder nicht – woher könnt ihr dies wissen?
Einer nun stolpert

über eine Frage, die holpert,
eine andere schert aus,
die Weltraummission macht den Garaus.
Sie gleiten von Stufen
der Rankings, die Hiring Managerinnen und Manager schufen.

Von Platz 1 auf 2, von 3 auf Platz 4 –
warum landet der Nächste nun vor der Tür?
„Ach weißt du, Grünschnabel, das verstehst du noch nicht.
Was mir nicht passt, das ist sein Gesicht.“
Sie fallen
mit Schallen:
Arbeitszeugnis, Anschreiben, Lebenslauf,
das ist es, die Auswahlkommission stürzt sich darauf.
Sie springt an auf Rauch und Schall
ohne erkennbaren Anforderungsbezug: husch, husch, husch, husch – verschwinden all!

O weh! nun sind sie alle fort,
und niemand Neues hier am Ort!
Und wenn doch, häufig ist der Jemand – welch´ Wunder – gar falsch.
Jemand Ausgesiebtes wäre vielleicht doch richtig gewesen –
herausfinden jedoch, tun wir´s niemals.
Machen wir weiter, reines Dokumente- und Gesichterlesen?
Man kann nicht mehr wie sonsten ruh‘n,
man muss nun alles selber tun!
Ein jeder muss fein
selbst fleißig sein,
und kratzen und schaben
und rennen und traben
und schniegeln
und biegeln
und klopfen und hacken
und kochen und backen.

Weh nur, hätten wir genauer hingeschaut,
hätten wir die eigentlich Geeigneten wohl nicht fälschlicherweise vergrault.
Ach, dass es noch wie damals wär‘!
Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her!

(frei nach August Kopisch, 1836)

Was Personalauswahl mit den Heinzelmännchen von Köln zu tun hat? Nun, das haben wir uns ehrlicherweise auch gefragt. Es braucht vielleicht wahrlich eine gute Portion Fantasie, doch lassen Sie uns Sie mitnehmen auf ein kleines Gedankenexperiment:

Erinnern Sie sich an das letzte Mal, als Sie sich gefragt, ob Sie vielleicht versehentlich etwas aussortiert haben, ohne sich dessen voll bewusst gewesen zu sein? Ein Messer beim Schnibbeln in der Küche mitsamt Kartoffelschalen, ein ausgeschnittener Zeitungsartikel im Altpapierstapel, ein Notizzettel mit einer guten Idee, fix hingeschmiert?

Wenn Sie zu den 0,000000001 Prozent der Weltbevölkerung gehören, denen dies nicht passiert – herzlichen Glückwunsch, Sie können jetzt aufhören zu lesen. Als unfehlbare Superheldin  haben Sie ohnehin wohl gerade Wichtigeres zu tun. Alle anderen, lesen Sie weiter.

Was in der Küche, im Alltag, im Büro so wunderbar vorschnell aussortiert werden kann, obwohl wir es eigentlich noch sehr gut gebrauchen könnten, funktioniert zweifelsfrei auch in die umgekehrte Richtung: Ein neuer Saft im Supermarkt, der schön macht? Nehmen wir mal mit. Der Superkugelschreiber mit Vier-Farben-Minen und Leuchtlicht? Muss unbedingt sein. Und so landen manchmal auch überflüssige Dinge in unseren Schränken oder unter den Schreibtischen. Was als der absolute Treffer erschien, entpuppt sich als Fehlkauf.

Übertragen auf die Personalauswahl sprechen wir hier von einem Fehler erster Art – auch a-Fehler genannt. Der Fehler erster Art liegt vor, wenn ungeeignete Bewerberinnen und Bewerber in einem Auswahlprozess als geeignet beurteilt und eingestellt werden. Dieser Fehler hat zwei besondere Charakteristika: Zum einem besteht bei diesem Fehler eine Reversibilität, d.h. die Einstellungsentscheidung ist umkehrbar, rückgängig zu machen. Hier kommen eine Versetzung oder Probezeitkündigung, oder das freiwillige Ausscheiden der Person auf der falschen Position in Frage. Somit existiert für den Fehler erster Art ein „Korrektiv“.

Will sagen, den Saft können Sie wieder umtauschen, den Kugelschreiber ebenfalls. Und wenn kein Umtausch im Laden, so doch vielleicht unter Kolleginnen und Kollegen. Schlimmstenfalls kann man den überflüssigen Kram auch einfach wegwerfen, ohne großen Schaden.

Nun aber zurück zu unserem Eingangsbeispiel: Was ist mit den Dingen, die scheinbar spurlos und über Nacht verschwinden? Denen wir zu wenig Acht gegeben haben, weil wir sie einen Moment nicht mehr brauchten oder zu brauchen gedachten: Wo ist das verflixte Messer? War das Gekrakel auf dem Papier doch etwa mehr als ein Schmierblatt?

Wir haben etwas fälschlicherweise aussortiert, nicht weiter beachtet, von dem uns nun langsam dämmert, dass wir genau das gerade gut gebrauchen könnten. Wie sonst Kartoffeln schälen? Die StartUp-Idee weiterverfolgen?

Übertragen wir das auf die Personalauswahl, so sprechen wir vom Fehler zweiter Art, auch b-Fehler genannt. Der Fehler zweiter Art liegt vor, wenn geeignete Bewerberinnen und Bewerber in einem Auswahlprozess als nicht-geeignet identifiziert und eine Absage erhalten. Dieser Fehler hat zwei tückische Charakteristika: Abgesagte Bewerberinnen und Bewerber erhalten nicht die Chance ihre Eignung der Organisation unter Beweis zu stellen, von der sie eine Absage bekommen haben. Egal, ob in Wirklichkeit geeignet oder nicht geeignet sind. Die Entscheidung ist irreversibel.

Zwischen beiden Fehlern besteht ein Zusammenhang, die Anzahl möglicher Fehlentscheidungen ist die Summe aus a-Fehler und b-Fehler. Sollen Fehlbesetzungen minimiert werden, z.B. bei der Besetzung einer Topmanagement-Position, wo eine Fehlbesetzung immense Opportunitätskosten verursachen würde, so werden die Cut-Off-Werte (definierter Schwellenwert, ab dem die Entscheidung für die Einstellung oder Ablehnung getroffen wird) höher angesetzt, auf die Gefahr hin, mehr potenziell geeignete Bewerberinnen und Bewerber abzulehnen.

Darüber, dass Einstellungsentscheidungen auch Investitionsentscheidungen sind, besteht Konsens unter Personalverantwortlichen. Im Vergleich zur Personalauswahl scheinen aber Organisationen bei klassischen Investitionsentscheidungen größere Vorsicht walten zu lassen und investieren schon bei kleineren Ausgaben viel Zeit in die Anbieterrecherche und den Vergleich. Auch ist den Personalverantwortlichen bewusst, dass falsche Einstellungen bzw. Fehlbesetzungen Geld kosten, die bis das zu dreieinhalbfache des Jahresbruttogehaltes einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters betragen können. Auch wenn dieses Bewusstsein in Organisationen vorhanden ist, so hört man immer wieder in Auswahlprozessen; „Und wenn es nicht klappt, dafür gibt es die Probezeit“. Die muss man dann aber auch wirklich nutzen.

Schauen wir uns Auswahlprozesse in Organisationen an, so erfolgen Einstellungsentscheidungen häufig auf Basis von ein bis zwei etwa einstündigen, unstrukturierter Interviews. Gern auch Gespräche genannt, wobei man sich vorwiegend auf Sympathie, Bauchgefühl und gute Menschenkenntnis verlässt. Im Vorfeld erfolgt die Bewerberinnen- und Bewerbervorausauswahl in der Regel auf der Informationsbasis von eingereichten Lebensläufen, sowie der Auswertung von Ausbildungs-, Abschluss- und Arbeitszeugnissen, wobei traditionelle Organisationen noch gern das Anschreiben bewerten. Unabhängig davon, ob es bei der zu besetzenden Stelle um ein Berufsbild handelt, in dem schriftliches Ausdrucksvermögen eine gesonderte Anforderung darstellt.

Und genau hier landen wir bei unserer Geschichte der Heinzelmännchen: Eigentlich geeignete Personen werden aussortiert – bedingt unter anderem durch nicht-genaues Hinsehen, unstrukturierte Vorgehensweisen und den Fokus auf Auswahlverfahren und Dokumente, die kaum bis keinerlei Anforderungsbezug aufweisen.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich die Vorauswahl in Deutschland sehr an Formalia, Abschlüssen, Noten, manchmal Referenzen und der beruflichen Historie orientiert, die Basis sämtlicher Eignungsbeurteilung folglich in der Vergangenheit liegt. Der starke Blick in die Vergangenheit ist damit begründet, dass man lange Zeit davon ausging, dass eine erfolgreiche Vergangenheit auch ein idealer Prädiktor für eine erfolgreiche Zukunft ist – schade nur, dass diejenigen „ohne einen Track Record“ – beziehungsweise eine berufliche Historie in dem geforderten Bereich – hier häufig keine Beachtung finden und auf der Strecke bleiben. Quereinsteigerinnen und -einsteiger ebenso wie Berufsanfängerinnen und -anfänger hatten und haben es tendenziell schwer in diesem System, welches häufig Potenziale nahezu völlig außer Acht lässt und Abschlüsse, Noten und Berufserfahrung ungleich höher bewertet.

Drum prüfe, wer sich (nicht) bindet. Einmal verabschiedet, kommt nicht mehr zurück.

Mara Colditz, M. Sc. Intercultural Business Psychology, ist Consultant bei der PD – Berater der öffentlichen Hand GmbH und im Vorstand der Recruitingrebels e.V. tätig.

Markus Tietz, Diplom-Kaufmann (Univ.) ist Senior Recruiter bei der Plusnet GmbH in Köln und aktives Vereinsmitglied bei den Recruitingrebels e.V.

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