Psychische Gesundheit: Erheblicher Nachholbedarf

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Obwohl die psychische Gefährdungsbeurteilung seit 2013 Pflicht ist, wird sie bei 40 Prozent der Unternehmen nicht durchgeführt. Es mangelt vor allem am Engagement der Führungskräfte. Das zeigt eine aktuelle Studie.

Aufgrund aktueller Entwicklungen der Arbeitswelt wie der zunehmenden Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort, dem Einsatz neuer Technologien, gesteigertem Leistungsdruck sowie dem Anstieg von atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnissen sehen sich Arbeitnehmende vermehrt mit neuen Anforderungen konfrontiert (BAuA, 2020; Eichhorst & Buhlmann, 2015). Die immer größer werdende Anzahl an Tätigkeiten mit überwiegend kognitiven, informatorischen und emotionalen Faktoren führt zu einer Zunahme der psychischen Belastung am Arbeitsplatz (BAuA, 2017).

Dies äußert sich in einem Anstieg der Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen. Mittlerweile sind psychische Erkrankungen nach Muskel-Skelett-Erkrankungen die zweithäufigste Diagnose für Arbeitsunfähigkeit (Badura et al., 2022). In Anbetracht der gestiegenen Relevanz des Themas sowie der hohen Fallzahlen sah sich der Gesetzgeber 2013 dazu veranlasst, Organisationen rechtlich zur Ermittlung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz sowie zur Ableitung, Umsetzung und Evaluierung entsprechender Maßnahmen zum Gesundheitsschutz zu verpflichten (vgl. § 2, 3 & 5 ArbSchG).

Trotz der gesetzlichen Verpflichtung und der hohen Relevanz der Thematik weisen einige Studien darauf hin, dass die psychische Gefährdungsbeurteilung in deutschen Organisationen nicht flächendeckend umgesetzt wird (Ahlers, 2016; Beck & Lenhardt, 2019; IFBG, 2020). Insgesamt ist die Studienlage jedoch dürftig: Viele relevante Erhebungen liegen bereits mehrere Jahre zurück und berücksichtigen daher neueste Entwicklungen wie beispielsweise die Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht oder weisen empirische Mängel auf.

Als ein Grund für die mangelnde Umsetzung wird häufig das Fehlen eines empirisch fundierten Verfahrens, welches alle Belastungsfaktoren abdeckt, angegeben (Beck & Schuller, 2020). Dennoch gibt es keine systematische Erfassung der Bedarfe der Organisationen für einen Fragebogen zur Durchführung der psychischen Gefährdungsbeurteilung. Aus diesem Grund sind die Ziele dieser Studie zum einen eine aktuelle Erhebung des Umsetzungsstandes der psychischen Gefährdungsbeurteilung in deutschen Organisationen und zum anderen die Erhebung der Bedarfe der Organisationen für ein Verfahren zur psychischen Gefährdungsbeurteilung. Die Vorgehensweise und Ergebnisse der Erhebung sind im Folgenden dargestellt.

Methode

Die Studie richtet sich explizit an Personen, die im beruflichen Kontext Berührungspunkte zur psychischen Gefährdungsbeurteilung haben. Dies sind insbesondere Akteure des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes oder des Personalbereichs, Beschäftigte im betrieblichen Gesundheitsmanagements sowie Personalverantwortliche.

Die Datenerhebung fand im Zeitraum vom 24. April 2023 bis 22. Juni 2023 statt. In diesem Erhebungszeitraum konnte der Fragebogen über einen Link abgerufen werden. Die Probandenakquise erfolgte größtenteils durch die persönliche Ansprache der Zielpersonen per Mail, aber auch durch Posts auf sozialen Netzwerken, die Ansprache von relevanten Verbänden und Gewerkschaften sowie durch persönliche Kontakte.

Von den 1.042 persönlich per Mail kontaktierten Personen nahmen insgesamt 158 an der Erhebung teil. Die Rücklaufquote für die Versandaktionen beträgt somit 15,2 Prozent. Außerdem konnten 84 weitere Teilnehmende durch die anderen Kanäle gewonnen werden. Die finale Stichprobe nach Bereinigung der Daten umfasst N = 242.

Ergebnisse

Stichprobe

Die Stichprobe von 242 Organisationen setzt sich aus 130 (53,7 Prozent) Organisationen des privaten Sektors und 112 (46,3 Prozent) Organisationen des öffentlichen Sektors zusammen. Es sind Organisationen aus einer Vielzahl Branchen vertreten. Am häufigsten wird die Branche Bildung/Wissenschaft mit 38 Organisationen angegeben, gefolgt von Gesundheit/Soziales (N = 36) und Consulting/Beratung (N = 22). Die Beschäftigtenanzahl der Organisationen ist in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1. Beschäftigtenanzahl der Organisationen (N = 242).

Eine psychische Gefährdungsbeurteilung wird insgesamt als wichtig bis sehr wichtig für die eigene Organisationen betrachtet (MW = 7.5). Die Einschätzung konnte auf einer Skala von eins „gar nicht wichtig“ bis neun „sehr wichtig“ abgegeben werden.

Umsetzungsstand der psychischen Gefährdungsbeurteilung

60,1 Prozent (N = 146) der befragten Organisationen führen eine psychische Gefährdungsbeurteilung durch, während 15,6 Prozent (N = 38) der Organisationen eine Durchführung planen und 19,8 Prozent (N = 48) keine psychische Gefährdungsbeurteilung durchführen. 4,1 Prozent der Organisationen wählten „Weiß nicht/ Keine Angabe“ (N = 10). 

Abbildung 2: Umsetzungsstand der psychischen Gefährdungsbeurteilung in deutschen Organisationen (N = 242).

Als Hinderungsgründe für die Durchführung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung werden kein ausreichendes Engagement der Führungskräfte (N = 133), wenig personelle Ressourcen (N = 123) und hoher Zeitaufwand (N = 105) am häufigsten genannt. Eine geringe Bedeutung des Themas (N = 30) und ein geringer Nutzen für die Organisation (N =21) spielen dagegen eine untergeordnete Rolle.

Abbildung 3: Hinderungsgründe für die Durchführung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung (N = 242).

Durchführungspraxis der psychischen Gefährdungsbeurteilung

Die Fragen mit Bezug zur konkreten Umsetzung der psychischen Gefährdungsbeurteilung wurden lediglich den 146 Befragten gestellt, die zuvor angegeben hatten, bereits eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Die meisten Organisationen setzen hierfür Fragebögen ein (N = 121), gefolgt von Workshops (N = 66) und Interviews (N = 40). Beobachtungsverfahren werden am seltensten eingesetzt (N = 26). Die 38 Probanden, die zuvor angegeben hatten, eine psychische Gefährdungsbeurteilung zu planen, wurden nach den hierzu geplanten Verfahren gefragt. Es zeigt sich, dass auch hier die meisten Organisationen beabsichtigen, hierfür Fragebögen einzusetzen (N = 34), ebenfalls gefolgt von Workshops (N = 17) und Interviews (N = 12). Die Verwendung von Beobachtungsverfahren wird am seltensten geplant (N = 4).

An der Planung der psychischen Gefährdungsbeurteilung ist in der Mehrheit der Organisationen der Bereich Arbeitssicherheit beteiligt (N = 97), gefolgt vom betrieblichen Gesundheitsmanagement (N = 81) und der Organisations-/Geschäftsleitung (N = 71). Auch an der Durchführung ist der Bereich Arbeitssicherheit am häufigsten beteiligt (N = 80), ebenfalls gefolgt vom betrieblichen Gesundheitsmanagement (N = 71). Unter den freien Nennungen bei „Sonstige“ wurden Arbeitnehmervertretungen (Planung N = 7, Durchführung N = 16), Arbeitsmedizin (Planung N = 8, Durchführung N = 9) und Führungskräfte (unterhalb der Organisations-/Geschäftsleitung) (Planung N = 5, Durchführung N = 1) mehrfach genannt und deswegen mit in Abbildung 4 mit einem * gekennzeichnet aufgenommen.

Abbildung 4. An der Planung (N =146) und der Durchführung (N = 146) der psychischen Gefährdungsbeurteilung maßgeblich Beteiligte. * = Angaben wurden den freien Nennungen entnommen. ** = Weitere Einzelnennungen bei „Sonstige“.

Die Organisationen führen im Durchschnitt seit 4,9 Jahren eine psychische Gefährdungsbeurteilung durch. Die Antworten reichen von null Jahren (Einführung dieses Jahr) bis 20 Jahre. Seit der Einführung der gesetzlichen Verpflichtung zur Durchführung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung im Jahr 2013 kann eine deutliche Zunahme der Durchführung festgestellt werden. Seit 2018 gab es einen weiteren deutlichen Anstieg.

67,1 Prozent (N = 98) der Organisationen haben erst einmal eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, bei 32,2 Prozent (N = 48) fand die Durchführung bereits mehrfach statt. Wenn dies der Fall war, fand die Durchführung im Durchschnitt alle 24,3 Monate statt. Knapp die Hälfte der Organisationen (N = 71; 47,9 Prozent) planen eine erneute Durchführung in regelmäßigen Abständen, im Mittel soll diese dann alle 22,1 Monate stattfinden. 40,5 Prozent (N = 60) planen eine erneute Durchführung in unregelmäßigen Abständen und 11,5 Prozent (N = 17) planen zurzeit keine erneute Durchführung.

Die Zufriedenheit der Befragten mit ihrem derzeitig eingesetzten Verfahren sowie die eingeschätzte Akzeptanz der Beschäftigten für das Verfahren konnte auf einer Skala von eins „gar nicht zufrieden“/ „gar nicht akzeptiert“ bis neun „sehr zufrieden“/ „sehr akzeptiert“ abgegeben werden. Sie liegt im Durchschnitt im mittleren Bereich bei 5,8 und die eingeschätzte Akzeptanz der Mitarbeitenden für das derzeitige Verfahren bei MW = 5,4.

Abbildung 5: Zufriedenheit der Befragten mit dem derzeitigen Verfahren (N = 146) und eingeschätzte Akzeptanz der Beschäftigten für das eingesetzte Verfahren (N = 146).

Fragen zu einem idealen Fragebogen

Die Fragen zu einem idealen Fragebogen zur psychischen Gefährdungsbeurteilung wurden von allen befragten Organisationen beantwortet, unabhängig vom derzeitigen Umsetzungsstand. Sie wünschen sich mehrheitlich (77.4 Prozent) einen kurzen Fragebogen mit einer Bearbeitungsdauer von unter 15 Minuten pro Person. Die Antworten reichen hierbei von zwei bis 120 Minuten, wobei der Durchschnitt 15,3 Minuten beträgt.

Abbildung 6: Optimale Bearbeitungsdauer pro Person für einen Fragebogen zur psychischen Gefährdungsbeurteilung (N = 239)

57,0 Prozent (N = 138) der Organisationen präferieren eine reine Online-Erhebung, während 41,3 Prozent (N = 100) eine Mischung aus Online und Papierform bevorzugen. Nur vier Organisationen (1,7 Prozent) wünschen sich eine Erhebung in reiner Papierform.

Ein Großteil der Organisationen (74,8 Prozent) bevorzugt eine kurze Ergebnisdarstellung mit fünf oder weniger Seiten, wobei der Durchschnitt 5,8 Seiten beträgt. Die Antworten umfassten eine bis 100 Seiten.

Zudem wurde die bevorzugte Darstellungsform der Ergebnisse erhoben. Dabei zeigte sich, dass sich fast alle der befragten Organisationen (N = 236) eine Darstellung der Ergebnisse mittels Grafiken wünschen, während Fließtexte nur von knapp zwei Dritteln (N = 157) und Tabellen nur von unter der Hälfte der Organisationen (N = 106) gewünscht sind.

Gruppenvergleiche

Zusätzlich zu den oben beschriebenen Erkenntnissen wurden Gruppenvergleiche berechnet, um Unterschiede zwischen großen und kleinen Organisationen, Organisationen mit und ohne Arbeitnehmervertretung, Organisationen des öffentlichen und privaten Sektors und Organisationen des produzierenden und nicht produzierenden Gewerbes festzustellen.

Insbesondere die Organisationsgröße und das Vorhandensein einer Arbeitnehmervertretung haben einen Einfluss auf die Ergebnisse. Große Organisationen mit > 1.000 Beschäftigten führen 1,2-mal so oft eine psychische Gefährdungsbeurteilung durch wie kleinere Organisationen und schätzen diese als wichtiger ein. Dies äußert sich auch darin, dass sie eine längere Bearbeitungsdauer des Fragebogens und eine längere Ergebnisdarstellung präferieren. In kleineren Organisationen ist zudem die Organisationsleitung häufiger in der Planung und Durchführung der psychischen Gefährdungsbeurteilung beteiligt, während große Organisationen häufiger mit externen Dienstleistern zusammenarbeiten.

Ähnliche Effekte hat auch eine Arbeitnehmervertretung, wobei anzumerken ist, dass 93,5 Prozent der großen Organisationen der Untersuchungsstichprobe auch über eine Arbeitnehmervertretung verfügen. Organisationen mit einer Arbeitnehmervertretung führen 1,4-mal so oft eine psychische Gefährdungsbeurteilung durch wie Organisationen ohne eine Arbeitnehmervertretung und präferieren ebenfalls eine längere Bearbeitungsdauer des Fragebogens.

Einordnung der Hauptergebnisse

In der aktuellen Untersuchung führen 60 Prozent der befragten Organisationen eine psychische Gefährdungsbeurteilung durch. Verglichen mit den Ergebnissen ähnlicher Studien zeigt sich ein Anstieg in der Umsetzungshäufigkeit (Beck & Lenhardt, 2019; IFBG, 2020). An dieser Stelle ist jedoch darauf hinzuweisen, dass vermutlich vermehrt solche Organisationen an der Umfrage teilnahmen, die bereits eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchführen.

Die Erkenntnisse hinsichtlich eines idealen Fragebogens verdeutlichen, dass die Organisationen besonderen Wert auf eine ökonomische und nutzerfreundliche Durchführung und Ergebnisdarstellung legen. Dies kann unter anderem auf begrenzte personelle und zeitliche Ressourcen zurückgeführt werden.

Insgesamt gibt es weiterhin einen hohen Nachholbedarf in der Praxis, insbesondere bei kleinen Organisationen und Organisationen ohne Arbeitnehmervertretung. Weitere Forschung zur Unterstützung der Organisationen und zur Erhöhung der Akzeptanz der Beschäftigten sowie die anwenderfreundliche (Weiter-)Entwicklung entsprechender Verfahren werden benötigt.

Abkürzungen: MW = Mittelwert, N = Anzahl, PGB = psychische Gefährdungsbeurteilung 

Weitere Literatur

Ahlers, E. (2016). Arbeit und Gesundheit im betrieblichen Kontext: Befunde aus der Betriebsrätebefragung des WSI 2015 (WSI Report Nr. 33). Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI).

ArbschG. (2023). Arbeitsschutzgesetz – Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit. Abgerufen am 24.09.2023. Verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/arbschg/ArbSchG.pdf

Badura, B., Ducki, A., Meyer, M. & Schröder, H. (2022). Fehlzeiten-Report 2022 (Bd. 2022). Berlin: Springer. DOI: 10.1007/978-3-662-65598-6

Beck, D. & Lenhardt, U. (2019). Consideration of psychosocial factors in workplace risk as-sessments: Findings from a company survey in Germany. International Archives of Occupational and Environmental Health, 92 (3), 435-451.

Beck, D. & Schuller, K. (2020). Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis: Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus einem Feldforschungsprojekt. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.).

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) (2017). Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt: Wissenschaftliche Standortbestimmung (1. Aufl.). Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. DOI: 10.21934/ baua:bericht20170421

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) (2020). Stressreport Deutschland 2019: Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden (1. Aufl.). Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. DOI: 10.21934/ baua:bericht20191007

Eichhorst, W. & Buhlmann, F. (2015). Die Zukunft der Arbeit und der Wandel der Arbeitswelt (IZA Standpunkte Nr. 77). Bonn: Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA).

Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung (IFBG) (2020). #whatsnext2020 – Erfolgsfaktoren für gesundes Arbeiten in der digitalen Arbeitswelt. Konstanz: IFBG (Hrsg.) https://www.tk.de/resource/blob/2090400/70d8fb1c6221fd7bc4253a946e1 fa308/whatsnext-2020-data.pdf

Dr. G. Rüdiger Hossiep, Diplom-Psychologe, Leitung Projektteam Testentwicklung an der Ruhr-Universität Bochum

Diplom-Psychologe, Projektteam Testentwicklung an der Fakultät für Psychologie und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum

Hannah Gildehaus, M.Sc. Psychologie, Management Trainee HR bei Evonik in Essen

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