Schattenorganisation – Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

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Die Kritik an klassischen, bürokratischen Organisationsformen reißt nicht ab. Stefan Kühl erfolgt seit vielen Jahren die Trends in den Managementdiskursen. Neue Ansätze sollen die bekannten Probleme von Organisation lösen. Doch welche Probleme sollen eigentlich gelöst werden?

Stefan Kühl, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld, gibt zunächst einen kurzen Überblick über die bekannte Kritik: Organisationen neigen demnach oft dazu, in Abteilungen zu denken und ihrer eigenen Logik zu folgen. Dies kann zu isolierten „Silos“ führen, in denen Abteilungen unabhängig voneinander arbeiten, anstatt als Einheit zusammenzuarbeiten. Die hierarchische Struktur sorgt oft für Schwierigkeiten im Informationsfluss und bei der Motivation. Untere Ebenen der Hierarchie haben oft keinen Zugang zu notwendigen Informationen, während Führungskräfte an der Spitze kritische Informationen von Basismitarbeitern nicht immer erhalten. Dieser Mangel an Kommunikation führt zu Entscheidungen, die von der Realität am Arbeitsplatz entkoppelt sind. Demotivation und Unzufriedenheit nehmen zu, da Mitarbeiter sich von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen fühlen und ihre Erwartungen an persönliches Wachstum gedämpft werden. Als Reaktion darauf erhöhen Führungskräfte oft den Druck auf die Mitarbeiter, was das Problem verschärft. Übermäßige Formalisierung führt zur Überbürokratisierung der Organisation, beeinträchtigt die Effizienz und führt zu Frustration bei Mitarbeitern und Führungskräften.

Alter Wein in neuen Schläuchen?

Das Verständnis der verschiedenen Organisationsformen und ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile ist seit Jahrzehnten ein zentraler Bestandteil der Organisationsforschung und der Managementdiskurse. Insbesondere Fragen wie das Überwinden des Silodenkens in Abteilungen, die selbständige Organisation von Arbeit und der Abbau von Hierarchien in größeren Organisationen sind nicht neu. Neu sind hingegen die modernen Bezeichnungen, unter denen die Lösungen und oft „neue Konzepte“ regelmäßig von der Beratungsbranche präsentiert werden. Es handelt sich dabei oft um bereits Bekanntes. So erscheinen heute Begriffe wie „agile Organisationen“ oder „intelligente Organisationen“ eben moderner, obwohl sie oft ähnliche Konzepte darstellen wie der ältere Begriff der „lernenden Organisation“.

Postbürokratische Organisationskonzepte versprechen Lösungen für die Probleme und bieten neue Wege, um Organisationen effektiver und effizienter zu gestalten. Agilität und Netzwerkstrukturen werden als mögliche Lösungsansätze propagiert, da bestehende Organisationskonzepte angeblich nicht die erforderliche Beweglichkeit und emotional-aktivierende Kraft für kommende Herausforderungen aufweisen.

Holokratie: Von der Euphorie zur Ernüchterung

Dabei ist ein gewisser Grad an Formalisierung für jede Organisation essentiell. Doch weisen klassische Organisationen mit Hierarchien und vielen Abteilungen wirklich den höchsten Grad an Formalisierung auf? Kühl enthüllt eine bemerkenswerte Erkenntnis: Es sind gerade postbürokratischen Organisationsformen wie die Holokratie (engl. Holacracy), die den höchsten Grad an Formalisierung aufweisen. Holokratie wurde von Brian Robertson entwickelt und in seinem Buch „Holacracy: The New Management System for a Rapidly Changing World“ vorgestellt.

Der Autor widmet das Buch diesem Organisationskonzept, das als praktische Umsetzung des allgemeinen Konzepts der Agilität in Organisationen angetreten ist. Nur eine Handvoll Organisationen hat dieses Konzept bisher umgesetzt. Dennoch sieht Kühl einen spannenden Unterschied zu anderen Managementkonzepten. Während diese oft einen Werkzeugkasten mit Regeln und Tools anbieten, aus denen Unternehmen die passenden auswählen können, stellt die Holokratie ein geschlossenes System dar, in dem die einzelnen Elemente aufeinander abgestimmt sind.

Im Unterschied zu herkömmlichen Organisationsstrukturen gibt es in der Holokratie keine Hierarchien oder Abteilungen. Die Organisation besteht aus autonomen Einheiten, die als „Kreise“ bezeichnet werden. Ein Kreis ist dabei nicht nur eine Gruppe von Menschen, sondern eine organisatorische Einheit, die aus verschiedenen Rollen besteht. Jede Rolle hat spezifische Aufgaben und Verantwortlichkeiten und eine Person kann mehrere Rollen in verschiedenen Kreisen einnehmen. Alle Erwartungen an eine Rolle werden ausführlich dokumentiert und Aktualisierungen werden in einer speziellen Steuerungssoftware vorgenommen. Kühl stellt fest, dass selbst in kleinen Organisationen mit etwa einem Dutzend Mitgliedern schnell sehr detaillierte Stellenbeschreibungen von dreißig oder vierzig Seiten pro Person entstehen. Dieses intensive Dokumentieren von Erwartungen bezeichnet er als „Hyperformalisierung“.

Zudem kritisiert er die Verwendung von bestimmten Schlagworten im Unternehmenskontext. Er nimmt insbesondere den Begriff „Agilität“ ins Visier, der oft nur als die Fähigkeit von Unternehmen verstanden wird, sich an verändernde Kundenwünsche anzupassen, um Gewinn zu erzielen. Er argumentiert, dass diese Fähigkeit schon immer eine grundlegende Anforderung an Unternehmen war, um am Markt erfolgreich zu sein.

Entstehung von Schattenstrukturen

Doch warum sind diese und andere von Beratern empfohlene Managementmethoden so beliebt? Sie dienen oft auch dazu, die Verantwortung für Entscheidungen unter Unsicherheit auf diese Methoden zu übertragen. Dadurch wird für den Fall, dass die Entscheidungen negative Konsequenzen haben, die Verantwortung auf die Methoden und nicht auf die Entscheidungsträger abgewälzt.

Kühl stellt fest, dass die holokratische Organisation trotz ihrer Neuheit nicht als optimale Organisationsform angesehen werden kann. Sie erzeugt Folgeprobleme, wie beispielsweise die Schwierigkeit für einzelne Organisationsmitglieder, sich in dem komplexen Netzwerk von Rollen zurechtzufinden. Als Reaktion auf diese Probleme entwickeln sich in hyperformalisierten Organisationen Schattenstrukturen. Sie dienen oft als Mittel zur Bewältigung von Komplexität und zum informellen Austausch, können jedoch auch zu Konflikten und Ineffizienzen führen, da sie die offiziellen Entscheidungswege umgehen. Der Soziologe erörtert in seinem Buch die Vor- und Nachteile dieser Schattenorganisation.

Der Autor zieht in seinem Buch kein Fazit und ein paar weitere Hinweise für Praktiker wären hilfreich gewesen. Er betont aber, dass die wesentlichen Mechanismen zur Anpassung von Organisationen an ihre Umgebung bereits bekannt sind. Jedes Konzept und jedes Gegenkonzept hat seine Vor- und Nachteile und muss zum Kontext der Organisation passen. Scheinbare Lösungen führen unweigerlich zu neuen Herausforderungen. Nach der Lektüre des Buches wird deutlich, dass das holokratische Organisationskonzept weder aus theoretischer noch aus empirischer Sicht überzeugt. Es handelt sich vielmehr um eine kuriose, aber interessante Erscheinung in der Welt der Organisationsmodelle.

In seiner fesselnden Analyse beleuchtet der Autor zentrale Kritikpunkte und liefert wertvolle Einsichten in die Welt des agilen Managements, am Beispiel der Holokratie. Es leistet damit einen bedeutenden Beitrag zur Entmystifizierung von überhöhten Managementmethoden und sein Buch ist eine klare Leseempfehlung für alle Personen, die sich nüchtern mit modernen Organisationsmodellen auseinandersetzen möchten.

Stefan Kühl: Schattenorganisation – Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2022, 143 Seiten, 26 Euro.

 

Head of People bei DocCheck AG

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