Swipe left, who is next? Ghosting im Bewerbungsprozess

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Was bei den Dating-Apps seit längerem bekannt ist, lässt sich zunehmend auch bei Bewerbungsprozessen beobachten: Kandidatinnen brechen den Kontakt abrupt und ohne Erklärung ab.

Noch nie war es so einfach wie heute, online Menschen kennenzulernen. Dating Apps wie Tinder scheinen für jeden eine nahezu unendliche Anzahl an potenziellen Partnerinnen und Partnern zu bieten. Rund um die Uhr, volle „Heiratsmarkttransparenz“ immer und überall. Swipe left, who is next? Oder: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch etwas Besseres findet“. Aber Moment mal, sollte es hier nicht um ein Thema aus Bewerbungsprozessen gehen?

Ein Phänomen des Online-Datings ist das Ghosting. Es beschreibt, wie jemand nach einem vorherigen Kennenlernen abrupt den Kontakt zu einer anderen Person abbricht. Ohne Vorankündigung, ohne Erklärung verschwindet er oder sie wie ein Geist und reagiert nicht mehr auf die Kontaktaufnahme des anderen. Irgendetwas passte nicht, Erwartungen wurden nicht getroffen oder es bestand von Anfang an nur geringes Interesse. Die Konsequenz ist ein völliges „Abtauchen“.

Ghosting-Verhalten gibt es auch bei Bewerbungsprozessen. BewerberInnen reagieren nicht mehr auf Einladungen zu Vorstellungsgesprächen, E-Mails oder Anrufe des potenziellen neuen Arbeitgebers. In der extremen Form erscheinen sie nach dem Vertragsschluss nicht am ersten Arbeitstag und „scheinen verschollen“ zu sein. Das kommt unabhängig von der Generation, dem Qualifikationsniveau und der Karrierestufe vor. Doch warum tritt das Phänomen aktuell verstärkt auf?

Dazu muss man einen Blick auf den aktuellen Arbeitsmarkt werfen. Dort gibt es vor allem zwei Entwicklungen. Die Machtverhältnisse von Arbeitgebern und BewerberInnen haben sich deutlich verschoben – zugunsten der BewerberInnen. Sprach man noch vor Monaten von einem Fachkräftemangel, so hat sich dieser zu einem generellen Mangel an Arbeitskräften ausgeweitet, der sich in den kommenden Jahren durch anstehende demographische Entwicklungen noch verschärfen wird. Firmen buhlen im sogenannten „War for Talents“ um (hoch qualifizierte) KandidatInnen und schon heute stellen Arbeitskräfte häufig die limitierende Ressource beim Wachstum von Unternehmen dar.

Zudem haben KandidatInnen heute geringe Barrieren, einen Bewerbungsprozess zu starten. Die direkte Ansprache in Business-Netzwerken gehört längst zum Recruiting-Repertoire vieler Unternehmen. Hier bewerben sich quasi die Unternehmen bei den Kandidaten und Kandidatinnen. Zusätzlich reduzieren viele Unternehmen die Hürden für eine Bewerbung. Es reicht ein CV oder ein Profil aus einem Business-Netzwerk, manchmal genügt auch die Beantwortung von drei bis fünf standarisierten Fragen. Anschreiben werden inzwischen eher als Hindernis betrachtet und „sterben aus“. Sich zu bewerben soll schnell und einfach und an verschiedenen Stellen möglich sein. Auch auf Instagram und Facebook bekommen KandidatInnen individualisierte Stellenangebote angezeigt. Und natürlich gibt es auch eine App fürs Recruiting bzw. Bewerbungen, die wie Tinder funktioniert.

Gehen diese geringen Zugangsbarrieren vielleicht zu Lasten der Verbindlich- oder Ernsthaftigkeit? Starten KandidatInnen leichtfertig und übereilt Bewerbungsprozesse, ohne wirkliche Wechselambitionen? Und führt das letztlich zu einem Ghosting-Verhalten?

Geringe Zugangsbarrieren können Ghosting wahrscheinlich begünstigen. Aber warum wird überhaupt „geghosted“? Ob privat oder beruflich, beim Ghosting geht es in erster Linie um Vermeidung. Und zwar um die Vermeidung, klar Position zu einem „Nein“ zu beziehen und sein Desinteresse offenzulegen, sei es aufgrund der gemachten Erfahrungen mit dem potenziellen Arbeitgeber, zusätzlich gewonnenen Informationen oder einfach nur „Veränderung der Interessenslage“. Warum jemand nicht „nein danke, es passt leider doch nicht sagt“ und „verschwindet wie ein Geist“, kann verschiedene Gründe haben: fehlender Mut, die Angst vor Rückfragen, die Vermeidung von Rechtfertigungen oder einfach nur Bequemlichkeit in Verbindung mit Gleichgültigkeit. Möglich ist auch, dass Verbindlichkeit in der individuellen Werteordnung der Person auf die hinteren Ränge gerutscht ist und sie ihrem Egoismus freie Bahn lässt. Schließlich scheint es – wie auf dem „Heiratsmarkt“ – auch auf dem „Jobmarkt“ ein schier unendliches Angebot zu geben.

Was können Unternehmen tun?

Hier hilft ein Blick auf die innere Kündigung, der in der Regel – wenn auch zeitversetzt – die äußere Kündigung folgt. In diesem Kontext spricht man häufig von einem „psychologischen Vertrag“, der gebrochen wird. Das heißt Unternehmen verlieren das Commitment ihrer MitarbeiterInnen, was letztlich zu ihrem Ausscheiden führt. Häufig sind die Ursachen im Verhalten von Führungskräften zu finden, aber auch nicht erfüllte Erwartungen, also Enttäuschungen und nicht marktgerechte Konditionen führen zu Kündigungen, die wiederum mit der Hoffnung verbunden sind, bei dem neuen Arbeitgeber entsprechende Verbesserungen zu finden. Ähnliches gilt für Bewerbende, die sich zurückziehen.

Dabei fußen Commitment und Interesse stark auf den im Bewerbungsprozess gemachten Erfahrungen. Neben eher technischen Dingen wie der Nutzerfreundlichkeit von Bewerbersystemen ist auch das Verhalten der beteiligten AkteurInnen im Unternehmen eine maßgebliche Grundlage für die sogenannte „Candidate Experience“. Sie bezeichnet die Gesamtheit der gemachten Erfahrungen während des Bewerbungsprozesses und kann dementsprechend positiv oder negativ ausfallen. Auch wenn dies (noch) nicht empirisch belegt ist, lässt sich doch vermuten, dass zwischen der Candidate Experience und dem Ghosting-Verhalten ein gewisser Zusammenhang besteht. Je positiver die Erfahrungen sind und je mehr sich die Beteiligten auf der menschlichen Ebene füreinander „erwärmen“ können, desto höher ist das Commitment und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit für Ghosting-Verhalten. Das mag profan klingen, aber das „Menscheln“ im Bewerbungsprozess und persönliche Kontaktmomente zahlen sich aus.

Bei Videointerviews und persönlichen Gesprächen ist daher eine gute und vertrauensvolle Atmosphäre wichtig verbunden mit Neugier, Offenheit und echtem Interesse für den Bewerbenden. Natürlich hat ein Interview auch einen gewissen Prüfungscharakter, dennoch sollten sich BewerberInnen weder bloßgestellt noch ausgefragt vorkommen. Wichtig ist es, diagnostisch sauber mit anforderungsbezogenen (teil-)strukturierten Interviewleitfäden vorzugehen. Das schafft eine Vergleichbarkeit der KandidatInnen und bietet die Möglichkeit, transparente, nachvollziehbare und ein mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz konformes Feedback zu geben. Detaillierte Rückmeldungen, auch telefonisch sind dabei ein Muss.

Wichtig ist es auch, den versprochenen Zeitrahmen in Sachen Feedback oder Antworten einzuhalten. Sollte es einmal wider Erwarten länger dauern, sollte der Kandidat oder die Kandidatin telefonisch darüber informiert werden. So mancher Bewerbende springt auch ab, weil er den Fachvorgesetzten nicht erreichen kann und keine direkten Kontaktdaten hat. Dabei schafft jeder Kontaktmoment auch Verbindung und Vertrauen. Trotz einem manchmal hektischen Alltag sollte die Kommunikation vom späteren Vorgesetzen oder der späteren Vorgesetzen daher nicht ausschließlich auf die HR- oder Recruiting-Abteilung abgewälzt werden. Das gilt auch für die Unterbreitung des Vertragsangebots, das persönlich oder per Telefon im Idealfall vom „Hiring Manager“ bzw. der „Hiring Managerin“ erfolgen sollte. Zwar ist es nicht immer möglich, die Gehaltsvorstellung des Kandidaten oder der Kandidatin erfüllen zu können, dennoch sollte ein niedrigeres Angebot niemals ohne Erklärung unterbreitet werden und im Idealfall im persönlichen Gespräch.

Wer all die Punkte berücksichtigt, verbessert die Candidate Experience und reduziert damit auch Gefahr für Ghosting.

Markus Tietz, Diplom-Kaufmann (Univ.) ist Campus Recruiting Manager bei einem IT-Dienstleister in Köln

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