Warum Fragen nach den Stärken und Schwächen im Bewerbungsgespräch nichts bringen.
Ganz stolz erzählt mir mein Kunde, welche guten Erfahrungen er in Bewerbungsgesprächen bisher mit der Frage nach den Stärken und Schwächen gemacht habe. Dadurch erfahre er, ob sich jemand mit sich selbst beschäftigt hat und reflektiert ist. Ich erkläre kurz und knapp, dass diese Fragen mich an Bewerbungsgespräche aus den 90ern erinnern und in einem modernen Recruiting nichts zu suchen haben. Wir konnten dann recht schnell klären, dass diese Fragen heute nichts mehr mit Selbstreflexion zu tun haben, sondern mit Selbstdarstellung. Doch wie finden wir im 21. Jahrhundert die richtigen Fragen für ein Interview?
Wir müssen hier zwei Themen klar unterscheiden: Was sind eigentlich Stärken und Schwächen? Und wie erfahre ich, ob eine Person reflektiert ist? So mag es anmuten, dass die Frage nach einer vermeintlichen Schwäche die Reflexion über die eigene Person voraussetzt. Heute überrascht diese Interviewfrage jedoch niemanden mehr. Bewerbende bereiten sich auf diese Frage vor und antworten je nach Belieben humorvoll mit einer „Schwäche für Schokolade“ oder verkaufen eine Stärke wie „Detailverliebtheit“ als Schwäche. Das hat nichts mit Reflexion, sondern mit guter Vorbereitung und Verkaufstalent zu tun. Von der Passung zum Job ganz zu schweigen. Bei den Stärken fällt es Bewerbenden deutlich leichter, diese auf den Job zu beziehen. Sie nutzen dafür das Feedback aus vorherigen Arbeitsverhältnissen, auch wenn das mit der neuen Position nicht zwingend etwas zu tun haben muss.
Doch was braucht es nun, um wirklich herauszufinden, welche Stärken und Schwächen jemand für einen Job mitbringt? Es bedarf einer Arbeits- und Anforderungsanalyse für die offene Position. Es ist unumgänglich, sich zunächst damit zu beschäftigen, welche Aufgaben zu bewältigen und welche Tätigkeiten zu erledigen sind und daraus abzuleiten, welche Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale, Arbeits- und Denkweisen eine Person zur erfolgreichen Bewältigung des Jobs mitbringen muss.
Aus diesen Anforderungen leitet sich ein Anforderungsprofil ab und zu diesen Anforderungen lassen sich Fragen entwickeln, die auch eine Einschätzung der Stärken und Schwächen – mit Blick auf die zu besetzende Position – zulassen. Fragt man allgemein und generell nach „Stärken und Schwächen“, wird jede und jeder – sogar mit Bezug zur Position – etwas anderes darunter verstehen. Nehmen wir als Beispiel die „Sportlichkeit“ einer Person. Wer sich für eine Bürotätigkeit bewirbt und die Frage nach der Schwäche mit „Ich bin sehr unsportlich.“ beantwortet, liefert keinen Erkenntnisgewinn für die Passung zur Stelle. Sucht man dagegen jemanden für eine Tätigkeit im Polizeiaußendienst, hat die „Sportlichkeit“ einen direkten Einfluss auf die erfolgreiche Ausübung der Tätigkeit. Daher wird im Auswahlverfahren der Bundespolizei auch ein Sporttest zur Feststellung der körperlichen Leistungsfähigkeit durchgeführt.
Eine Möglichkeit die vorab definierten Persönlichkeitsmerkmale im Bewerbungsgespräch herauszufinden, sind sogenannte biografische Fragen. Wird etwa im Projektmanagement Organisationstalent gefordert, ergeben sich fast zwangsläufig Fragen wie: „Beschreiben Sie doch bitte Ihr letztes großes Projekt. Was war Ihre Rolle in dem Projekt? Was war das Ziel? Wie sind Sie vorgegangen, um dieses zu erreichen? Welche Methoden haben Sie für das Projektmanagement genutzt?“
Mit den Antworten erhält man ein Bild der Denk- und Arbeitsweise des Interviewten aus der Vergangenheit und möglicherweise auch für die Zukunft und kann die Passung besser einschätzen. Wer dann noch fragt: „Was haben Sie aus dem Projekt gelernt? Was würden Sie heute anders machen?“ hat sogar die Reflexionsfähigkeit des Bewerbenden geprüft – ganz ohne in die Mottenkiste der 90er zu greifen.
Madeleine Kern, Master of Science in Management, ist Gründerin der Beratung Personalmarketing Kern in Stuttgart