Agile Reformation: Ideologische Konzepte und esoterische Überhöhung

Pixabay Karin Henseler

Ein genauerer Blick auf die neuere Systemtheorie und die Ideen der integralen Organisationsentwicklung zeigt, dass es sich bei den zugrundeliegenden Denkgebäuden mehr um ideologische Konzepte und eine esoterische Überhöhung handelt. Dabei wäre ein evidenzbasiertes Personalmanagement eine vielversprechende Alternative. Aber das lässt sich nicht so gut vermarkten.

In den 90er Jahren trat die systemische Organisationsentwicklung ihren Siegeszug an. Sie wurde als soziologisch-psychologische Alternative zu den bis dahin vorherrschenden betriebswirtschaftlichen Rationalisierungsansätze gefeiert. Der klassischen Unternehmensberatung, mit ihren oft kalt wirkenden Optimierungstools, sollte eine humanere sozialwissenschaftliche Herangehensweise entgegengesetzt werden. Die Kritik an der klassischen Beratung und der Innovationsanspruch brachten eine neue Kultur der Unternehmensentwicklung: mit Großgruppen-Interventionen, Management-Selbsterfahrung, Trommel-Events und neuen Theorie-Impulsen. Mit losem Bezug auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns wurde eine „neue Systemtheorie“ ausgerufen – denn Luhmanns komplexe Meta-Theorie wurde von kaum jemandem wirklich verstanden und bot auch keine Handlungsanleitung. Luhmann selbst sagte dazu: „Ich habe nicht die Vorstellung, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die auf die Praxis angewendet werden können. Die Praxis, zum Beispiel ein Ministerium, ist für mich ein nach eigener Logik funktionierendes System.“ Die wissenschaftliche Kritik an Luhmanns Theorien (Obrecht & Zwicky 2002) ist unter systemischen Organisationsentwicklern kaum bekannt.

Heruntergekocht und therapeutisch angereichert blieben nur einige einfache Formeln für die Organisationsentwickler übrig: Alles ist komplex und hängt mit allem zusammen; nichts ist einfach steuerbar; Unternehmen sind Organismen und können sich nur von selbst entwickeln. Führungskräfte sollen postheroische Coaches ihrer Mitarbeitenden sein.  Störungen sind positive Impulse und ein radikaler Konstruktivismus – jeder hat seine eigene Realität. Die artistische Begriffs-Komplexität der Systemtheorie Luhmanns diente dabei aber weiterhin als Bollwerk gegen betriebswirtschaftliche Argumente: Manager waren beeindruckt von Aussagen wie „Organisations-Umwelten generieren in autopoietisch emergierenden Prozessen Beobachtungen zweiter Ordnung.“ Besonders praktisch für systemische Berater: Wenn ein Projekt nicht die gewünschten Ergebnisse brachte, dann hat „das System nicht mehr hergegeben“. Diese Mischung aus argumentativer Immunisierung, Bottom-up-Herangehensweise und sozialpädagogischem Selbstfindungs-Charme hat in den letzten drei Jahrzenten viele Unternehmensprojekte begleitet.

Doch so plausibel die Kritik an den klassischen Unternehmensberatern auch war, bleibt fraglich, ob die systemische Beratung auf einem plausiblen Fundament steht und realistische Antworten bietet. Spätestens bei der nächsten Quartalsbilanz merkten die Manager, dass es abseits radikalkonstruktivistischer Erörterungen eine wirkliche Wirklichkeit gibt. Unternehmen machten die Erfahrung, dass systemische Projekte eher langwierig, wenig fokussiert und mit hohem Verwirrpotential daherkamen. Nicht jedem Manager war vorher klar, welche gutmeinende Ideale er mitkaufte, dass nun alles „postheroisch“ zu sein hat und nur co-kreativ in der Großgruppe entschieden wird. Der therapeutische Anspruch gruppendynamischer Prozesse und systemischer Organisationsaufstellungen haben manch vermeintliche Probleme aufgerissen, die Unternehmen dann ratlos zurückließen. Dabei konnte man den systemischen Beratern nicht mal vorwerfen, dass sie nicht wissen was sie tun – denn das war gewissermaßen ihr Credo: Nur das System kennt die Probleme und kann sich selbst helfen – Störungen sind ein Gewinn.

Reinventing Unternehmensentwicklung

Wer heute solche Themen in der Organisationsentwicklungs-Szene anspricht, merkt schnell, dass der Zug in den letzten Jahren weitergefahren ist. Die supervidierende Systembegleitung ist dem Agile-Consulting gewichen. Nun ist die Welt nicht mehr nur systemisch komplex, nun ist sie Vuca – volatil, unsicher, komplex und ambig. Ob unser Leben in den letzten Jahrzehnten wirklich unsicherer geworden ist und Komplexität nicht auch Problemlösungspotenzial bietet, das alles interessiert dabei wenig, denn es geht um gefühlte Wahrheiten. Und diffuse Zukunftsängste sind hervorragende Verkaufstreiber.

Mit dem neuen Paradigma wird nun auf agile neue Werkzeuge für kurzfristig erzielbare Ergebnisse gesetzt – von Design Thinking bis zu Scrum. Doch auch neue weltanschauliche Paradigmen sind dabei. Im Gegensatz zur Systemtheorie sind diese nun nicht mehr der Soziologie, sondern der Informatik und besonders der Esoterik entliehen. Holacracy, als ein Vertreter dieser neuen Denkrichtung, möchte ein neues Betriebssystem für Unternehmen sein – analog zu PC-Betriebssystemen. Mit Ken Wilbers Spiral-Dynamic-Integral-Model wird hier eine holistische Teal(Türkis)-Zukunft propagiert. Wilber negiert dabei die wissenschaftliche Evolutionstheorie und glaubt an eine Art intelligentes Design, das in Zukunft Religion und Wissenschaft vereinen wird. Eine Teal-Organisation soll dabei die höchste evolutionäre Entwicklungsstufe darstellen. In ihr arbeiten dann spirituell erleuchtete Menschen – selbstangeleitet und selbstlos. Solche orakelnden Geschichtsvorhersagen hatte schon Karl Popper in „Das Elend des Historizismus“ enttarnt. Zur Begründung bedient sich Ken Wilber bedarfsweise auch wissenschaftlicher Theorien – aber immer nur so weit es seine esoterische Argumentation stützt. Selektive Fakten werden mit einer oberflächlich plausiblen Geschichten angereichert – und fertig ist die neue Wahrheit.

Holacracy – das neue Unternehmensbetriebssystem

Die Kluft zwischen Weltanschauung und Arbeitsrealität wird sichtbar, je konkreter die Vorgaben der Theorie sind. Als Praxisanleitung ist Holacracy hier besonders entlarvend: Mit komplizierter Unternehmensverfassung und formalisierten Meetings und Rollen zielt es vor allem darauf ab, Prozesse statt Menschen zu empowern. Als eine Konsequenz daraus wird von hoher Mitarbeiter-Fluktuation bei Holocracy praktizierenden Unternehmen berichtet (Medium.com 13.11.2018). Nach Interviews mit Mitarbeitern des amerikanischen Online-Schuhhändlers Zappos kommt Bud Caddell, Gründer des Beratungsunternehmens Nobl, zum Fazit: „Viele Mitarbeiter sind bereits überarbeitet und zu wenig trainiert; diese Menschen aufzufordern, sie sollen auch noch das Management-Äquivalent von Dungeons and Dragons erlernen ist töricht, wenn nicht sogar inhuman.“ (Caddell 2016). Bei den „Best Companies to Work For“-Umfragen von Fortune stürzte Zappos drei Jahre nach der Einführung von Holacracy ab u…

Axel Ebert, Magister der Psychologie, Trainer, Vortragender, Berater und Partner bei identifire und wortwelt in Salzburg

Diskutieren Sie mit