Coaching mit KI: Wenn der ChatBot den Coach ersetzt

pixabay Franz26

Ersetzen ChatGPT sowie speziell für Coaching entwickelte KI-Apps künftig den Coach? Ein Praxistest zeigt die Problematik.

Generative Künstliche Intelligenz (KI) wie z.B. ChatGPT bzw. GPT-4, sowie speziell für Coaching entwickelte KI-Apps, zum Beispiel Pi.ai/talk, Evoach oder AIMY, können für Coaching genutzt werden. Sie fordern die Weiterentwicklung von Coaching und insbesondere Online-Coaching tiefgreifend heraus. Im Folgenden soll mithilfe kommunikationstheoretischer Überlegungen und eines Praxisexperiments versucht werden, die Chancen und Risiken dieser Herausforderung zu einzuschätzen (vgl. auch Lenz, 2023).

Zu diesem Zweck ist es hilfreich, die oben genannten KI-Apps mit Blick auf die vorliegenden Coaching-Kommunikations- und Problemlösungsmedien zu untersuchen (Geißler, 2018a; Geißler & Rödel, 2023).

Erstere haben den Zweck, die Kommunikation zwischen Coach und Coachee raum- und gegebenenfalls auch zeitunabhängig zu machen. Das wird möglich mithilfe synchroner und asynchroner, audiovisueller, auditiver und textlicher Kommunikationstechnologie. Die primäre Funktion elektronischer Coaching-Problemlösungsmedien hingegen besteht darin, die Coachees bei der Bearbeitung ihrer Coachingproblematik anzuleiten bzw. zu unterstützen. Sie können deshalb auch für Selbstcoachings genutzt werden. Im Großen und Ganzen zeichnen sie sich durch folgende – miteinander kombinierbare – Merkmale aus:

  • vorgegebene und/oder zu erstellende elektronische Texte, die gegebenenfalls mithilfe von Kästen und Kreise gerahmt und mit Pfeilen u.ä. verbunden werden (können),
  • elektronische Bilder, die zu betrachten sind,
  • elektronische Bilder bzw. Zeichnungen, die im Coachingprozess noch weitergehend zu bearbeiten sind,
  • und 3D-visuelle Welten mit Avataren.

Mit Bezug auf diese Merkmale kann man sie folgendermaßen gruppieren:

  • Whiteboards, Power-Point-Folien, Word-Dokumente, Excell-Tabellen u.ä., die sich in unterschiedlicher Weise anbieten, um etwas zu verschriftlichen oder Skizzen bzw. Schaubilder anzufertigen,
  • schriftlich vorgegebene Coachingfragen, die von den Coachees schriftlich zu beantworten sind, wobei die Antworten mithilfe elektronischer Bilder illustriert werden können (Geißler, 2018b)
  • elektronische Bilder, die der Coachee mithilfe vorgegebener schriftlicher Antwortmöglichen oder freien Texten kommentiert kann bzw. soll (z.B. Zürcher Ressourcen Modell, Storch & Krause, 2005)
  • elektronische Zeichnungen, die mit Texten zu füllen sind (Beispiel: Coachingspace.net, Miro),
  • 3D-visuelle Welten mit Avataren, die beschriftet werden können und so miteinander kommunizieren können (Beispiele: CoSpaces, ProReal).

Schauen wir nun auf die oben genannten KI-Apps, vermittelt sich auf den ersten Blick der Eindruck, dass es sich hier um eine innovative Weiterentwicklung der elektronischen Coaching-Kommunikationsmedien handelt. Denn ChatGPT, Pi.ai/talk und Evoach dienen der textbasierten Coaching-Kommunikation, deren innovative Besonderheit darin besteht, dass sich die Kommunikation synchron vollzieht und die Coachees nicht mit einem menschlichen Coach, sondern mit einer Maschine chatten. Ähnliches gilt für die synchrone Audiokommunikation, die AIMY anbietet.

Die Einschätzung wird durch empirische Untersuchungen gestützt, die zeigen, dass Coachees dazu neigen, die Kommunikation mit der KI-App partiell zu vermenschlichen, also teilweise so zu erleben, wie die Kommunikation mit einem menschlichen Coach. Sie sind sich dabei aber gleichzeitig bewusst, dass es sich um eine Maschine handelt. Diese Tatsache wird positiv bewertet, denn bei einer Maschine kann man – im Gegensatz zu einem menschlichen Coach – absolut sicher sein, sich aufgrund bestimmter Äußerungen bzw. Selbstoffenbarungen nicht beschämt fühlen zu müssen (Ellis-Brush, 2021). Aus diesem Grunde empfiehlt sich die Nutzung von KI-Coaching-Apps vor allem für Coachees, die in dieser Hinsicht empfindlich sind.

Das führt zu der Erkenntnis, dass ChatGPT, Pi.ai/talk, Evoach und AIMY nur oberflächlich betrachtet so aussehen wie elektronische Kommunikationsmedien, in Wirklichkeit aber elektronische Selbstcoaching-Tools sind. Denn es handelt sich um elektronische Coaching-Tools, die konzeptionell dieselbe Funktion haben wie z.B. die Fragen-Set des „Virtuellen Coachings (VC)“ (Geißler, 2018b)

Daher liegt es nahe, sie im Sinne des Subsidiaritätsprinzips zunächst einmal für einfache Coachingprobleme zu nutzen, also z.B. für Skill-Coaching oder Transfercoaching im Anschluss an Trainings, Schulungen oder Workshops. Bei anspruchsvolleren Coachings hingegen, wie z.B. beim Developmental oder Transformational Coachings, ist zu empfehlen, die Ergebnisse von KI-basierte Selbstcoachings und die in diesem Zusammenhang gemachten Selbsterfahrungen sorgfältig in einem anschließenden, persönlichen Dialog mit dem Coach zu besprechen.

Kommunikationstheoretische Verortung

Insbesondere auch, um das Praxis-Experiment besser verstehen zu können, werden die Kooperationsmöglichkeiten zwischen Coach, KI-App und Coachee kommunikationstheoretisch ausgeleuchtet, und zwar zunächst mit Bezug auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann (1984) und seine Erkenntnis, dass menschliche Kommunikation auf einer Penetration bzw. strukturellen Koppelung zwischen einem sozialen System und zwei psychischen Systemen beruht. Kommunikative Äußerungen sind audiovisuelle, auditive oder textliche Phänomene des Sozialsystems, das die Kommunikationsteilnehmer miteinander verbindet. Diese Phänomene werden als Sinnesdaten von dem psychischen System des Senders produziert und von dem psychischen System des Empfängers wahrgenommen und entschlüsselt, d.h. verstanden. Diese Verbindung des Sozialsystems einer Kommunikation mit den psychischen Systemen des Senders und Empfängers ebnet allerdings nicht ihre grundsätzliche Unterschiedlichkeit. Denn das, was psychisch mit einer Äußerung gemeint ist, ist häufig nicht identisch der objektiv vorliegenden Kommunikationsäußerung und diese steht häufig auch in Differenz zu dem, was der Empfänger psychisch wahrnimmt und versteht.

Das Modell ist hilfreich, um die Besonderheiten KI-basierter Kommunikation zu verstehen. Denn wie das Praxis-Experiment deutlich macht, zeichnet sie sich dadurch aus, dass das psychische System des Coachees objektiv wahrnehmbare Phänomene produziert. Diese werden aber nicht von einem psychischen System, sondern von einer KI-Maschine rezipiert und Algorithmen gesteuert mit einer Knowledge Base und vorliegenden Skripten (d.h. Wenn-Dann-Regelungen) verbunden, um objektiv wahrnehmbare Äußerungen, also z.B. Antworten zu generieren, die deutliche Ähnlichkeiten mit psychisch generierten Äußerungen haben.

Man mag dazu neigen, diese Art der Kommunikation als unmenschlich abzulehnen. Aber sie hat auch deutliche Vorteile. Diese können mithilfe der von dem Soziologen Ulrich Oevermann entwickelte Forschungsmethode der objektiven Hermeneutik (z.B. Oevermann u.a. 1979) und ihrer Bedeutung für Coaching verdeutlicht werden (Oevermann, 2003).

Der Grundgedanke der objektiven Hermeneutik ist, die grundlegende Schwäche der traditionellen Hermeneutik, nämlich das Modell des sogenannten hermeneutischen Zirkels zu überwinden. Die Vorannahme dieses Modells ist, dass man die Realitätsphänomene der Lebenspraxis, also z.B. Texte, nur auf der Grundlage des eigenen Vorverständnisses verstehen kann. Dadurch entsteht ein Zirkelschluss. Denn auf der Grundlage des eigenen Vorverständnisses kann man nur das verstehen, was man schon längst weiß (Oevermann, 2003, S. 39 ff.). Ausgedrückt in der Sprache der Systemtheorie von Luhmann besteht das grundlegende Merkmal des hermeneutischen Zirkels darin, dass das psychische System des Empfängers die Bedeutungsermittlung bzw -zusprache objektiv vorliegender Realitätsphänomene unkontrolliert dominiert.

Als Lösung dieses Problems schlägt Oevermann ein Verfahren vor, das den Anspruch hat, sich bei der Bedeutungsermittlung vorliegender Realitätsphänomene von den Bedingungen der psychischen Systeme individueller Interpreten, also von ihrem subjektiven Vorverständnis, gänzlich unabhängig zu machen. Zu diesem Zweck wird im Rückgriff auf die von G.H. Mead (1968) begründete Theorie des symbolischen Interaktionismus vorgeschlagen, aus Ausgangspunkt für die Bedeutungsermittlung vorliegender Realitätsphänomene nicht das Bewusstsein des Einzelnen, sondern die Gesamtheit des gesellschaftlich vorliegenden Wissens zu wählen.

Auf eine pragmatische Ebene heruntergebrochen bedeutet das für die Sinndeutung eines Realitätsphänomens, dieses von möglichst unterschiedlichen Standpunkten bzw. Vorverständnisses aus zu betrachten und in Auseinandersetzung mit der so erzeugten Pluralität konkurrierenden Deutungsangebote und Sinn- bzw. Handlungsorientierungen diejenige zu wählen, die empirisch überprüfbar die größte Erklärungskraft haben.

Zentrales Merkmal von Professionalität

Das Grundprinzip dieser Methode ist ein zentrales Professionalitätsmerkmal von Coaching. Denn Coaching ist nur dann professionell, wenn Coaches dem Grundsatz der objektiven Hermeneutik folgen und in der Auseinandersetzung mit den Problemen ihrer Coachees ihre eigenen wie auch immer begründeten Deutungen und Lösungsvorstellungen selbstkritisch überprüfen, und zwar in Auseinandersetzung mit möglichst unterschiedlichen Alternativdeutungen und Lösungsvorstellungen.

Vergleicht man die Methode der objektiven Hermeneutik mit der Methode, die der KI-basierten Kommunikation zugrunde liegt, fallen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Die wichtigste Gemeinsamkeit ist, dass die Verstehensprozesse von KI-Apps nicht das Produkt psychischer Systeme sind, sondern sich auf ein breites gesellschaftliches Wissen stützen.

Der wichtigste Unterschied hingegen ist, dass die KI das Prinzip der objektiven Hermeneutik nicht anwendet, zunächst einmal möglichst viele konkurrierenden Deutungsmöglichkeiten und Handlungsempfehlungen zu generieren, um in Auseinandersetzung mit ihnen die beste herauszufiltern. Denn KI orientiert sich vorrangig an Wahrscheinlichkeiten und folgt damit in veränderter Gestalt der Methode der traditionellen Hermeneutik. Diese Schwäche wird in dem Praxisexperiment deutlich erkennbar.

Und schließlich muss in diesem Zusammenhang auch noch darauf hingewiesen werden, dass generative KI sich nicht an dem Gütekriterium wissenschaftlicher Redlichkeit orientiert, sondern durch kommerzielle und politische Einflussnahmen gefährdet ist. Es ist deshalb wichtig zu wissen, aus welchen Quellen sich die Knowledge Base der verschiedenen KI-Apps speist, d.h. welche Personengruppen, welches Wissen, welche Meinungen und Handlungsempfehlungen in die KI eingegeben haben und wie die KI diesen Input nutzt, um sich autonom weiterzuentwickeln, d.h. zu „lernen“ (Lenz, 2023).

Praxisexperiment

Um auf der oben entwickelten Grundlage die Risiken und Chancen bzw. die Qualität bestimmter KI-Coaching-Apps einzuschätzen, empfiehlt sich

  • zum einen die Durchführung von Experimenten, in denen in denen verschiedenen KI-Coaching-Apps gefragt werden, an welchen Coachingtheorien und -ansätzen sie sich orientieren bzw. welches methodische Prozessdesign ihnen zugrunde liegt
  • und zum anderen Experimente, in denen Forschende sich als Coachee von einer KI-Coaching-App coachen zu lassen, um anschließend prozessanalytisch zu untersuchen, welche Coachingtheorien und -ansätze dem so generierten KI-Coachingprozess zugrunde liegen.

Das im Folgenden vorzustellende Praxisexperiment wurde mit der KI-Coaching-App Pi.ai/talk durchgeführt, indem zunächst gefragt wurde, welche Coachingmethoden diese KI zugrunde liegen. Die erhaltene Antwort lautet: Einige der wichtigsten Ansätze für coachingfähige Kis sind der „Solutions-Focused-Coaching“, „Person-Centered-Coaching“ und das „Transforming-Coaching“. In all diesen Ansätzen liegt der Fokus auf dem Menschen, der sich selbst helfen muss, zu den Lösungen zu gelangen.

Anschließend wurde gefragt, welche Prozessschritte die Methode des Solution-Focused Coaching konkretisieren. Pi.ai nennt darauf hin sechs Schritte, die aus Platzgründen im Folgenden nur stichwortartig aufgelistet werden:

  • Zukunftsorientierung
  • Appreciative Stärkenbewusstsein
  • Erkundung von Alternativen
  • Anwendung von Kreativität
  • Wirkungsorientierung
  • 6) Fehleranalyse

Für das Transforming-Coaching nennt Pi.ai fünf Schritte, nämlich:

  • Beobachtung inneren Wirklichkeit
  • Entdeckung neuer Sichtweisen
  • Vermittlung des Kompetenzbewusstseins.
  • Vorbereitung auf Veränderungen.
  • Umsetzung

Für die Methode des Person-Centered-Coachings benennt die Pi-App keine formalen Schritte, sondern drei Prinzipien, nämlich: Empathie, Anerkennung und Warme Beziehung.

Der KI-Coaching-Dialog

Die folgende Tabelle beinhaltet das Protokoll des KI-Coaching-Dialogs mit der KI-App Pi.ai/tal…

Professor Dr. Harald Geißler, Studium und Promotion in Erziehungswissenschaft, Professor an die Helmut-Schmidt-Universität Hamburg für das Fach Erziehungswissenschaft insbesondere Berufs- und Betriebspädagogik (2015 emeritiert). Forschungsschwerpunkte: Organisationslernen und Coaching, und zwar insbesondere Coaching mit modernen Medien.

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