Recruiting: Mehr Sorgfalt trotz weniger Bewerber

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Recruiting muss sich im aktuellen Bewerbermarkt mehr anstrengen, nicht weniger genau hinsehen. Wer Eignungsdiagnostik vernachlässigt, verhält sich wie jemand, der das Thermometer von der Wand nimmt, weil es ihm zu warm ist.

Mittlerweile dürfte es Common Sense sein: Wir haben Arbeitskräftemangel. Der Arbeitsmarkt zeigt sich trotz der vielen Verwerfungen – wie den nach wie vor spürbaren Folgen der Corona-Pandemie, einem Krieg in Europa, Energie- und Klimakrise, drohender Rezession und technologischer Disruption (Stichwort: KI) – überaus robust. Für die Personalgewinnung heißt dies: sinkende Bewerbungszahlen, zumindest anekdotisch berichteter Rückgang der Qualität der Bewerbungen sowie gestiegene Forderungen gepaart mit niedrigerem Commitment der Bewerbenden. Kurz: Die Gewinnung von Personal wird immer schwieriger.

Im Gegensatz zu eher akademischen Debatten um die demografische Entwicklung, die es ja schon etliche Jahre gibt, drückt sich die Lage am Arbeitsmarkt für alle sichtbar und sehr handfest aus: Während diese Entwicklung in der Vergangenheit oft unter dem Begriff Fachkräftemangel diskutiert wurde, oftmals begleitet von der Konnotation, dass es sich um einen Mangel an IT-Fachkräften oder Ingenieuren und Ingenieurinnen handelt, reden wir mittlerweile doch eher von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel. Es mangelt nämlich nicht nur an IT-Fachkräften, sondern der Mangel zieht sich durch alle möglichen – oft auch gerade Blue Collar- Berufsbilder: Pflegekräfte, LKW-Fahrende, Sekretärinnen, Bestatter, Hausmeister, Diakone, Reinigungskräfte, Schwimmmeister, Flughafenpersonal usw.

Auch wenn man zuletzt leichte konjunkturbedingte Bremsspuren erkennen konnte, liegt das vom Münchner ifo Institut und der KFW regelmäßig berechnete Fachkräftebarometer immer noch dicht unterhalb seines historischen Höchststands, und das quer über Branchengrenzen hinweg. Im Fachkräfte­barometer wird der Anteil der Unter­nehmen in Deutsch­land dargestellt, deren Geschäfts­tätigkeit derzeit durch Fachkräfte­mangel behindert wird. Hierzu werden einmal pro Quartal rund 9.000 Unter­nehmen aus den Wirtschafts­bereichen verarbei­tendes Gewerbe, Bauhaupt­gewerbe, Handel sowie Dienst­leistungen befragt, darunter 7.500 mittelständische Unternehmen.

Abb 1: KfW-ifo-Fachkräftebarometer, KfW Research.

 

Für das Recruiting heißt das: Die Macht verschiebt sich immer weiter in Richtung der Bewerbenden. Der Befragung „Future.Work.Today“ der Jobbörse Stepstone und des Handelsblatt Research Institute (Stepstone und Handelsblatt Research Institute, 2022) aus dem vergangenen Jahr zufolge gehen alle am Arbeitsmarkt vertretenen Altersgruppen sowie sowohl Fach- als auch Führungskräfte davon aus, dass ihre Verhandlungsmacht in den kommenden Jahren steigen wird. Und das heißt: Recruiting muss viel stärker im Sinne der Personalgewinnung gedacht werden, mit Betonung auf „Gewinnung“.

 

Abb 2: Verhandlungsmacht der Bewerbenden steigt, Stepstone und Handelsblatt Research Institute (2022)

 

Ist Recruiting wie Sales?

Manche Unternehmen leiten daraus ab, dass Recruiting mittlerweile eher wie Sales ticken sollte, wobei die Recruiting-Verantwortlichen ihre Stellen wie Vertriebler an den Mann und die Frau bringen müssen. Auch geht hiermit oft die – ebenfalls dem E-Commerce entlehnte – Idee einher, dass im Recruiting sämtliche Bewerbungshürden fallen müssten. Denn: Wer nicht mehr so viel Auswahl hat, der kann ja auch nicht mehr so wählerisch sein.

Und tatsächlich ist zu beobachten, dass Unternehmen vielfach nicht mehr auf Anschreiben bestehen, oft nur noch – wenn überhaupt – ein Kurz-CV beigelegt werden muss, Noten und Zeugnisse keine Beachtung mehr finden usw. Dass viele dieser traditionell als unverzichtbar angesehenen Bewerbungsbestandteile auf den Prüfstand gestellt werden, ist per se erstmal eine gute Nachricht, kann man doch über deren Aussagekraft und prognostischen Gehalt trefflich streiten. Doch ist leider das Hauptmotiv bei der Streichung dieser Auswahlmerkmale eben zumeist nicht die gereifte Erkenntnis, dass darin kein oder nur geringer diagnostischer Mehrwert liegt, sondern schlicht die Furcht, durch deren Einsatz Bewerbenden zu viel zuzumuten und diese so möglicherweise zu verlieren. Insofern ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass bei dem Versuch, es wirklich allen Bewerbenden vermeintlich recht zu machen, buchstäblich das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet wird.

Dass Recruiting „gewinnender“ werden muss, daran besteht kein Zweifel: Selbstverständlich ist es an den Unternehmen, potenziellen neuen Mitarbeitenden gute Argumente zu liefern, warum ein Einstieg gerade bei diesem Unternehmen sich lohnt. Aber mit der Sales-Metapher hadere ich sehr. Ich halte sie sogar für eine in Teilen nicht ungefährliche Metapher, weil sie leicht falsch verstanden werden kann. Denn ob ein Vertriebler in seinem Job gut ist, hängt im Wesentlichen davon ab, wie viel er verkauft. Es gilt: Je mehr Kunden, desto besser. Ob die Kunden nachher lange bleiben und sich wohlfühlen, ist nicht so wirklich die Baustelle des Vertriebs. Dass aber Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einen guten Job machen, möglichst lange im Unternehmen verbleiben und sich dabei wohlfühlen, ist für die Personalgewinnung sehr wohl entscheidend. Es ist sogar zentral und elementar.

Das heißt, trotz noch so deutlich zu spürendem Arbeitskräftemangel, darf es auf keinem Fall dazu kommen, dass das Recruiting beliebiger wird. Nach dem…

Joachim Diercks, Diplom Kaufmann ist Geschäftsführer und Co-Founder von CYQUEST in Hamburg, einem Anbieter von Assessment-Lösungen für Personalauswahl und Berufsorientierung. Er ist Hochschuldozent für Eignungsdiagnostik, Buchautor und regelmäßig als Speaker bei HR-Fachkongressen und betreibt den viel gelesenen HR-Blog Recrutainment Blog.

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