Jennifer Jordan, Professorin für Leadership and Organizational Behaviour am IMD in Lausanne, forscht und lehrt über Führung im digitalen Zeitalter. Das von ihr entwickelte Modell umfasst elf wesentliche Kompetenzen.
Digital Leadership ist längst ein Buzzword. Was steckt eigentlich überhaupt dahinter?
Wir nennen unseren Kurs bewusst nicht „Digitale Führung“, sondern „Führen im digitalen Zeitalter“. Und da sehe ich drei wesentliche Veränderungen bei der Führung. Einmal geht es mehr um Netzwerke und nicht mehr um das individuelle Führen. Zum anderen müssen sich Führungskräfte mit dem Thema Transparenz auseinandersetzen. Sie haben heute nicht mehr die Wahl, was sie privat halten und was sie teilen. Und drittens verändert die virtuelle Zusammenarbeit die Führung.
Welche Fähigkeiten braucht man als digital Leader?
Mein Kollege Professor Michael Wade und ich wir haben aus unserer Forschung ein Modell aus Persönlichkeitszügen, Kompetenzen und Fähigkeiten entwickelt. Viele Studien stammen aus dem IMD Global Center for Digital Business Transformation zurück. Zum Beispiel eine Studie mit über tausend Managern in Unternehmen, die entweder selbst Disruptor waren oder deren Unternehmen davon betroffen waren. Dabei haben wir uns die Persönlichkeitszüge und Kompetenzen angeschaut, die das Ergebnis vorhersagen können. In einer anderen Studie haben 47 Manager interviewt und sie gefragt, welche Kompetenzen ihrer Meinung nach den Erfolg vorhersagen können. Zudem habe ich eine eigene Studie über Angst bei Leadern gemacht. Es gibt schon einiges an Forschung, aber es ist noch viel zu tun. In unserem Modell haben wir sieben Kernkompetenzen identifiziert. Das sind Demut, Anpassungsfähigkeit, Visionskraft, Engagement, Hyper-Awareness, informierte Entscheidungsfindung und schnelle Ausführung.
Was bedeutet das im Einzelnen?
Zu Demut gehört die Offenheit für Lernen und für Feedback und zwar von jeder Hierarchieebene. Anpassungsfähigkeit heißt, man richtet seine Einstellung neu aus, wenn es neue Informationen gibt. Visionskraft bedeutet, eine Vision für die Zukunft zu haben. Damit meine ich nicht einen konkreten Dreijahresplan, aber man sollte sein Ziel kennen. Zum Engagement gehört, dass man im Zuhörmodus ist und nicht nur den anderen Anweisungen gibt. Hyper-Awareness steht für die Fähigkeit, die Chancen und Gefahren wahrnehmen zu können, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens. Bei der informierten Entscheidungsfindung geht es darum, Entscheidungen aufgrund von Daten fällen zu können. Bisher setzte man hier eher auf Intuition. Man stellte erfahrene Manager ein und verließ sich auf ihre Erfahrung. Heute sind Daten wichtiger denn je geworden. Und schnelle Umsetzung ist der Umgang mit der Geschwindigkeit von Veränderungen. Das sind die sieben Kernkompetenzen.
Aber das ist noch nicht alles oder?
Nein dazu gehören vier weitere persönliche Kompetenzen, die damit zusammenhängen. Wenn zum Beispiel Demut wichtig ist, stellt sich natürlich die Frage, was man tun kann, um demütiger zu werden? Wir haben die Literatur durchgeschaut und herausgefunden, dass Selbstwahrnehmung hilft. Wer seine Schwächen kennt, ist offener für Lernen. Auch Leader, die in einer Situation gescheitert sind, haben eine höhere Selbstwahrnehmung. Zur Anpassungsfähigkeit wiederum gehört die Toleranz für Ambiguität. Führungskräfte, die besser mit Unsicherheit und unbekannten Variablen umgehen können, sind anpassungsfähiger. Und bei den Visionen geht es auch darum, andere zu überzeugen und zu motivieren, seiner Vision zu folgen. Engagement und Hyper-Awareness wiederum haben mit der Fähigkeit zu tun, Netzwerke zu bilden. Also, wie baue ich mir ein passendes Netzwerk auf, um meine Aufgabe bestmöglich erledigen zu können. Das hat natürlich auch wieder mit Demut zu tun und mit der Einsicht, dass ich nicht alles allein kann. Insgesamt kommen wir so auf elf Kompetenzen.
Gerade die vier letzten Kompetenzen hängen eng mit der Persönlichkeit zusammen und lassen sich – wenn überhaupt nur schwer verändern.
Da haben Sie absolut recht. Wir versprechen auch nicht, dass wir die Führungskräfte ändern. Wir geben ihnen Methoden und Werkzeuge, um Veränderungen starten und schneller umzusetzen zu können. Einer der besten Wege, damit anzufangen, ist Selbstwahrnehmung. Deshalb machen alle Teilnehmer vor dem Kurs ein 360 Grad-Feedback, wo sie Rückmeldungen von Kollegen, Mitarbeitern und Kunden einholen. Die Ergebnisse besprechen sie dann mit einem individuellen Coach. Da geht es dann darum: Was sind meine Stärken und Schwächen? Was bedeutet das für mich? Was kann ich gut, was andere nicht so gut können? Was auch sehr effektiv ist, um Anpassungsfähigkeit und Demut zu entwickeln, ist Reverse Mentoring. Wir fordern die Führungskräfte daher auf, von anderen zu lernen, die zum Beispiel jünger sind und einen anderen Standpunkt haben. Das müssen nicht nur Millennials sein.
Gibt es Führungskräfte, die von ihrer Persönlichkeit her, weniger gut für digitales Leadership geeignet sind oder das einfach nicht können?
Ich würde nie sagen, dass sie es nicht können, aber sie werden mehr damit kämpfen. Das ist wie in vielen Bereichen eine Kombination von harter Arbeit und Talent. Es gibt Tennisspieler, die ein großes Talent haben, aber nicht genug Anstrengung reinsetzen und dann auch keine guten Spieler werden. Andere haben weniger Talent, aber den Antrieb, hart zu arbeiten und zu lernen, und werden erfolgreich.
Kommt es auch vor, dass Teilnehmer nach dem Kurs sagen: Das war interessant, aber jetzt weiß ich, dass ich absolut nicht der richtige Typ dafür bin und in diesem Umfeld erfolgreich sein werde.
Das habe ich noch nie gehört. Es gab eher die Befürchtungen vor dem Kurs, dass sie nicht die richtigen Leader oder zu alt dafür sind. Wir versuchen, den Teilnehmern möglichst viele reale Beispiele von Managern zu geben, die auch keinen technischen Hintergrund haben und heute zum Beispiel erfolgreich mit künstlicher Intelligenz arbeiten. Es ist ja eine der Kernkompetenzen, zu erkennen, was man kann und was nicht und wie man sich ein unterstützendes Netzwerk aufbaut, um seine eigenen Schwächen zu kompensieren.
Wie reagieren Manager, wenn sie erfahren, dass ihre bisherigen Führungskompetenzen jetzt nicht mehr gefragt sind?
Wenn wir unser Modell vorstellen, sind mache Führungskräfte verstört und sagen: Alles was ich bisher in meiner Karriere aufgebaut habe, ist jetzt nicht mehr relevant. Aber das ist völlig falsch. Man darf die alte Welt nicht vergessen. Diese Kompetenzen braucht man noch immer in bestimmten Situationen. Manchmal muss man eben sagen, wo es langgeht, weil man einfach mehr Wissen hat. Und manchmal muss man sich auch auf seine Intuition verlassen und nicht auf Daten setzen. Entscheidend ist daher, ob ich in der Lage bin, zwischen den beiden Welten zu wechseln.
Welchen Tipp haben Sie für HR-Manager?
Ich würde jedem HR-Verantwortlichen dringend empfehlen, sich das Leadership-Kompetenz-Modell des Unternehmens genau anzuschauen. Wie gut passen die Belohnungsmechanismen mit den neuen Kompetenzen überein? Was sind die KPIs? Welche Art von Kompetenzen wird gefördert? Sind das eher die Kompetenzen der alten Welt wie Perfektion und Wissen statt schneller Ausführung und Demut? Wenn das nicht passt, wird es keine schnellen und nachhaltigen Veränderungen geben, wobei die C-Suite – also die Vorstandsetage – eine Modellfunktion übernehmen muss.
Das Interview führte Bärbel Schwertfeger
Jennifer Jordan ist Sozialpsychologin und Professorin für Leadership and Organizational Behaviour am IMD in Lausanne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind digital Leadership, Ethik, Einfluss und Macht. Sie hat einen Master in Philosophie und einen Master of Science in Psychologie sowie ihren Ph.D. in Psychologie an der Yale Universität erworben. Sie lehrte an der University Groningen in den Niederlanden und war Post-Doctoral Fellow an der Kellogg School of Management und der Tuck School of Business in den USA sowie Gastwissenschaftlerin am Max Planck Institute for Human Development in Berlin.
Bärbel Schwertfeger ist Diplom-Psychologin, seit 1985 freie Journalistin und Chefredakteurin von WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE HEUTE.