Die Situation aufgrund der Corona-Pandemie machte viele depressiv. Doch mit einer echten Depression hat das meist nur wenig zu tun, wie Professor Ulrich Hegerl erklärt. Denn die ist eine ernsthafte, oft lebensbedrohliche Krankheit.
Die Corona-Pandemie hat bei vielen zu wachsenden Belastungen geführt. Haben wir jetzt eine neue Welle von Depression?
Eine große Depressions-Epidemie werden wir nicht kriegen, denn Menschen ohne eine Veranlagung zu Depressionen werden wegen Corona-bedingten Belastungen nicht depressiv erkranken. Das von uns jährlich durchgeführte Deutschland-Barometer Depression, eine repräsentative Bevölkerungsbefragung, hat aber ergeben, dass sich bei vielen Menschen mit Depression die Krankheit sehr negativ entwickelt hat. Hochgerechnet etwa zwei Millionen Menschen haben im September letzten Jahres angegeben, dass sich die Erkrankung verschlechtert hat. Es sei wegen der Maßnahmen gegen Corona zu Rückfällen gekommen, die Depressionsschwere habe zugenommen, Suizidgedanken seien aufgetreten. Diese Verschlechterungen gingen Hand in Hand mit einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung: Behandlungen seien abgesagt und die Angebote von Ambulanzen heruntergefahren worden, Selbsthilfegruppen seien ausgefallen. Und auch das Gesundheitsverhalten hat sich verändert. Die Menschen gaben an, länger im Bett gelegen zu haben. Das ist in der Regel bei Depressionen sehr ungünstig. Erstaunlicherweise ist das Gegenteil, der Schlafentzug, antidepressiv wirksam. Auch sei weniger Sport gemacht worden. Sport ist unterstützend in der Depressions-Behandlung. Viele haben auch angegeben, durch Rückzug in die eigenen vier Wände und Homeoffice weniger Ablenkung und mehr Zeit zum Grübeln gehabt zu haben. Dies sind sehr bedrückende Ergebnisse. Durch die Corona-Maßnahmen ist ohne Zweifel auch großes Leid verursacht worden.
Wie kann man unterscheiden, ob jemand nur niedergeschlagen aufgrund der aktuellen Situation oder ernsthaft depressiv erkrankt ist?
Dass man wegen Corona und der damit verbundenen Einschränkungen bedrückt ist, Sorgen und Ängste hat, das ist eine völlig normale und gesunde menschliche Reaktion auf die Lebensumstände. Der Fachmann kann diese gut von den Krankheitszeichen einer Depression abgrenzen. Für die Depression sprechen zum Beispiel vermehrte Schuldgefühle wie „ich habe alles falsch gemacht, ich bin ein Versager, ich bin eine Belastung für andere“. Es gibt Tagesschwankungen. Depressionen sind meist morgens und nach Schlaf stärker ausgeprägt und bessern sich gegen Abend. Weiter berichten depressiv Erkrankte, dass sie müde seien. Sie meinen damit aber nicht Schläfrigkeit, sondern das Gegenteil: Sie schlafen schlecht ein und durch und empfinden eine tiefe Erschöpfung bei innerer Daueranspannung. Manche sagen, sie fühlen sich permanent so als ob sie vor einer Prüfung ständen. Weiter berichten depressiv Erkrankte, sich innerlich wie versteinert zu fühlen, keine Gefühle mehr wahrnehmen zu können, auch keine negativen wie Trauer. Sie fühlten sich innerlich wie abgestorben. Das sind Beispiele für Krankheitszeichen, anhand derer man eine nachvollziehbare Reaktion auf belastende Lebensumstände von der ernsthaften Erkrankung Depression abgrenzen kann. Oft gibt es auch erkrankte Angehörige oder frühere depressive Krankheitsphasen. Entscheidend ist nämlich die Veranlagung, die vererbt sein kann. Sie kann aber auch erworben sein, zum Beispiel durch Traumatisierungen und Missbrauchserfahrungen in der frühen Kindheit.
Eine „echte“ Depression hängt also nicht von äußeren Belastungen ab?
Menschen ohne eine Veranlagung zu Depression können große Bitternisse ertragen, ohne depressiv zu erkranken. Bei Menschen mit einer Veranlagung können jedoch äußere Faktoren als Auslöser durchaus eine wichtige Rolle spielen. Häufig wird aber der Einfluss der Lebensumstände überschätzt. Dies liegt unter anderem an folgendem Mechanismus, der bei jeder Depression abläuft: Würde sich die Depression bei mir einschleichen, dann würde ich in meinem Leben herumschauen, was es an Negativem gibt, zum Beispiel Überforderungen, Rückenschmerzen, Partnerschaftskonflikte, berufliche Sorgen durch die Maßnahmen gegen Corona, Angst vor Long-Covid, was auch immer. Hierbei wird man bei jedem von uns fündig. Diese negativen Dinge werden dann vergrößert, als katastrophierend erlebt und ins Zentrum gerückt, und dann leicht als Ursache der Depression fehlinterpretiert. Lehrreich ist eine große Studie zu Suiziden, die ja häufig durch Depressionen verursacht werden. Man hat über Jahre hinweg in Kooperation mit circa 600 Hausarzt-Prax…
Bärbel Schwertfeger ist Diplom-Psychologin, seit 1985 freie Journalistin und Chefredakteurin von WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE HEUTE.