Die Nanny Company: Wo Wohlbefinden der Mitarbeiter am wichtigsten ist

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Mitarbeiter müssen im Mittelpunkt stehen, lautet die Prämisse von Personalern, Berater, Coaches und Autoren. Das kann einen infantilisierenden Charakter haben. Unternehmen werden zur Nanny Company, die dem subjektiven Erleben der Mitarbeiter höchste Priorität zumessen.

Sollte man Mitarbeiter in den Mittelpunkt zu rücken? Erfahrungsgemäß stimmt eine breite Mehrheit dieser Idee zu. Und Arbeitgeber postulieren diesen Anspruch auf ihren Karriereseiten: „Bei uns steht der Mitarbeiter im Mittelpunkt“. Auch die Gemeinde der Personaler, Berater, Management-Coaches und Autoren wird nicht müde auf Vorträgen, in Blogs, oder in Postings auf sozialen Medien zu bejubeln, wie wichtig es sei, Mitarbeiter in den Mittelpunkt zu rücken. Aber immer dann, wenn sich alle einig zu sein scheinen, ist es dringend notwendig, sich eine Prämisse etwas genauer anzuschauen.

Was konkret bedeutet es, Mitarbeiter in den Mittelpunkt zu rücken? Hier scheiden sich die Geister. Grundsätzlich können zwei Formen unterschieden werden. Sie unterscheiden sich im Wesentlichem im dahinterstehenden Menschen- oder Mitarbeiterbild. Die eine Vorstellung geht vom erwachsenen Menschen aus, der gerne Verantwortung für sich, sein Team und die Kunden übernimmt, nach Herausforderungen sucht und nach Erfolg strebt. Die andere Vorstellung beschreibt einen verletzlichen, fordernden Menschen, der nach Wohlbefinden strebt und seine Umwelt für sein Wohlergehen verantwortlich macht. Letzteres hat einen erkennbar infantilisierenden Charakter. Es mündet in das, was gerne auch als  Nanny Company tituliert wird.

Paternalismus, Humanisierung und Agilität

Um sich dieser Differenzierung besser anzunähern, soll in eine Zeit geblickt werden, in der kaum jemand auf die Idee kam, Mitarbeiter in den Mittelpunkt zu rücken. Damals dominierte die Idee des Paternalismus. Sie beschreibt eine Form der Unternehmensführung, die auf Bevormundung, Unterordnung oder gar Unterwerfung gegenüber einer übergeordneten Autorität basiert. Die Idee des „Great Man“, einer übergeordneten super-intelligenten, vorausschauenden Kraft. Sie gibt Dinge vor, lebt den Anspruch, zu wissen, was richtig ist und der Rest der Organisation hat sich diesen Vorstellungen gehorsam zu fügen.

Diese Idee fand auch in der Personalpolitik vieler Unternehmen ihren Niederschlag. Man ging von einem eher statischen Organisationsverständnis aus, in dem die Struktur einer Organisation und die darin abgebildeten Stellen und Verantwortlichkeiten klar beschrieben waren. Nun lag es in der Verantwortung der Personalabteilung, dafür zu sorgen, dass die richtigen Mitarbeiter zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle waren. Also, tat man etwas mit der als passiv betrachteten Humanressource. Das Unternehmen war das Subjekt und die Menschen das Objekt. Man gewann Mitarbeiter, man wählte sie aus, man entwickelte, band und förderte sie. Man motivierte sie, versetzte sie und zuweilen entließ man sie. „Man“ war die Personalabteilung oder teilweise die Führungskräfte, aber selten die Mitarbeiter selbst.

Dann, spätestens in den 60er-Jahren setzte man vermehrt auf eine Humanisierung der Arbeit. Man begann, sich für die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu interessieren und im selben Atemzug wurden die Mitarbeiterbefragung oder Mitarbeiterzufriedenheits-Umfrage geboren. In der Produktion setzte sich die Idee der teilautonomen Arbeitsgruppen durch. Und so gewann man einen ganzheitlicheren Blick auf den Menschen als Mitarbeiter, einem Wesen, das nach Autonomie, Entfaltung, sozialem Austausch und Erfüllung strebt.

Die Idee der Agilität

Aber erst in den späten 90er-Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends war zunehmend von Agilität die Rede. Der wesentliche Treiber für diese Entwicklung war sicherlich die zunehmende Komplexität, Vernetztheit, Dynamik und Unsicherheit, die mit der Digitalisierung einherging. Bereits in ihrem agilen Manifest formulierten Softwareentwickler das Prinzip „individuals and interactions over processes and tools“ (https://agilemanifesto.org/)

Entsprechend ging es im Zusammenhang mit der aufkommenden Idee von Agilität darum, dass Mitarbeiter und Teams eigenständig und eigenverantwortlich denken, entscheiden und handeln sollten, in kurzen Zyklen, möglichst nah am Kunden bzw. nah am Problem.

Die Idee der Agilität war zunächst keine humanistische Idee. Sie war vielmehr funktional motiviert. Auch wurde sie nicht von mitfühlenden Aktivisten oder humanistisch denkenden, selbsternannten „Evangelisten“ begründet, sondern von Softwareentwicklern, die in erster Linie an der Sache und ihrem Erfolg interessiert waren.

Hierbei ist es wichtig, zu erkennen, dass Agilität ein aktueller und relevanter Weg darstellt, den Mitarbeiter in den Mittelpunkt zu rücken. Das dahinterstehende Menschenbild ist das des erwachsenen, verantwortungsvollen Mitarbeiters, der Herausforderungen sucht, nach Erfolg strebt und den Kundennutzen im Fokus hat. Damit ist Agilität eindeutig als eine Abkehr vom eingangs beschriebenen Paternalismus zu begreifen.

 

Maternalismus und die Nanny Company

Parallel zu dieser Entwicklung hat sich in der jüngsten Vergangenheit eine weitere Variante der Abkehr vom Paternalismus und des Mitarbeiter-in-den-Mittelpunkt-Rückens entwickelt. Man könnte sie als Maternalismus bezeichnen und basiert auf dem Menschenbild eines verletzlichen, fordernden und nach Wohlergehen strebenden Menschen (siehe Abbildung).

 

Abbildung: Agilität und Maternalismus als Formen, Mitarbeiter in den Mittelpunkt zu rücken.

Die Konstrukte des Maternalismus und der Nanny Company sind konzeptionell schwer einzugrenzen oder zu definieren. Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einige charakteristische Besonderheiten zu skizzieren:

– Das Wohlbefinden der Mitarbeiter ist eine strategische Priorität.

– Das soziale Umfeld ist maßgeblich für das Wohlbefinden verantwortlich.

– Die Mitarbeiter werden als Kunden betrachtet.

– Die Mitarbeiter werden mitfühlend vor negativen Gefühlen geschützt.

– Es besteht eine Kultur des Konsenses und der Harmonie.

– Subjektives Erleben geht vor objektiven Fakten und Intentionen.

Nanny Companies messen dem Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter eine strategische Bedeutung zu. In der unternehmerischen Praxis ist dann nicht selten von der sozialen Verantwortung als Teil der Personalpolitik die Rede. Entsprechend macht seit einiger Zeit die Idee der „Environmental Social Governance“ (ESG) die Runde, wobei sich das „Social“ explizit auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter bezieht.

In diesem Zusammenhang wird die Hypothese laut, ein breites Wohlbefinden innerhalb der Belegschaft habe einen direkten Einfluss auf den Unternehmenserfolg. Kritiker würden dem zurecht entgegenhalten, dass man diesen Zusammenhang auch umgekehrt sehen könnte. So hart oder belastend die Arbeit und deren Bedingungen auch sein mögen, am Ende führt Erfolg immer zu Wohlbefinden. Wohlbefinden als Konsequenz und nicht als Voraussetzung von Erfolg.

Verantwortung liegt bei den Anderen

In „Nanny Companies“ sind immer die Anderen für das Wohlbefinden eines Mitarbeiters verantwortlich und niemals der Mitarbeiter selbst. Die Anderen, das sind vor allem das Unternehmen, die Personalabteilung, die Führungskräfte oder andere übergeordnete Instanzen innerhalb der Organisation.

Die Personalabteilung ist verantwortlich für Lernen und Entwicklung der Mitarbeiter und nicht die Mitarbeiter selbst. Inklusion und Onboarding liegen in der Verantwortung des jeweiligen Umfelds und nicht in der Verantwortung der neuen Mitarbeiter oder der zu Inkludierenden.

Wenn Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, wird angenommen, das Unternehmen habe versagt. In diesem Zusammenhang wird reflexartig nach Versäumnissen auf Seiten des Unternehmens gesucht, die die Mitarbeiter veranlasst haben, nach neuen Ufern Ausschau zu halten. Führungskräfte sind dafür verantwortlich, ihren Schützlingen psychologische Sicherheit zu bieten, damit sie sich trauen, auf Fehler hinzuweisen.

Professor Dr. Armin Trost, Diplom-Psychologe, Professor für Arbeit- und Organisationspsychologie an der Hochschule Furtwangen

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