Wider alle Vernunft. Coaching und HR-Management auf Abwegen.

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In der heutigen Zeit gewinnen psychologische Erkenntnisse in der Wirtschaft immer mehr an Bedeutung. Wo es einen Markt gibt, werden auch fragwürdige Konzepte und Dienstleistungen angeboten. Der Wirtschaftspsychologie-Experte Professor Uwe Kanning hat sich verschiedene umstrittene Methoden im Personalmanagement angeschaut. Um den Einstieg in seinem Buch etwas lockerer zu gestalten, präsentiert der Autor zunächst eine satirische Anleitung für Scharlatane. Dabei stellt er Fragen an Menschen, die in der Personalszene beruflich Fuß fassen wollen und dabei gerne mit Tieren arbeiten, Heilpraktiker oder Astrologen sind oder schon immer gute Menschenkenner waren. Sie starten am besten als Berater für Personalthemen oder direkt als (Business)-Coach durch. Er erwähnt süffisant, dass sie ihre Qualifikation bereits praktisch mitbringen. Sie müssen daher kein qualifiziertes Studium absolvieren, sich über den aktuellen Forschungsstand weiterentwickeln oder ihre Methoden im Unternehmen evaluieren. Sie müssen sich auch keine großen Sorgen machen. Denn je ansprechender ihre Broschüren oder ihre Website aufbereitet sind, desto begeisterter werden die Kunden sein.

Nach diesem „Amuse-Bouche“ aus der Satire-Küche, beschäftigt sich der Psychologie-Professor mit verschiedenen umstrittenen Methoden und Techniken im Bereich des Personalmanagements und der Unternehmensberatung.  Dabei werden Konzepte wie die Transaktionsanalyse, The WorkTM , die KI-unterstützte Analyse der (Körper-)Sprache oder Microexpressions behandelt. Aber auch völlig absurde Methoden wie Lichtsprache, Analyse der Geburtsdaten, Coaching mit Tieren oder die Führungskräfteentwicklung durch einen Dirigenten.

Auch eine innovative Idee, die sich im Umfeld agiler Arbeitsumfelder großer Beliebtheit erfreut, ist dabei: Peer Recruitment. Teammitglieder unterstützen bei der Personalauswahl oder führen diese sogar ohne Recruiting-Experten alleine durch. Doch das Hauptproblem in der Personalauswahl in vielen Unternehmen ist nicht die fehlende Einbindung der Teams, sondern die Verwendung schlechter Methoden und die Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen. Gruppenentscheidungen führen oft zu schlechteren Entscheidungen und Eignungsdiagnostik ist eine anspruchsvolle Fachdisziplin. Die Einbindung von Teammitgliedern, sollte die Validität des Auswahlverfahrens verbessern und kein reiner Selbstzweck sein.

Der Autor äußert auch Kritik am “Enneagramm“, einem typologischen Persönlichkeitsmodell, das umstritten ist. Dabei soll es neun grundlegende Persönlichkeitstypen geben, die in einer bestimmten Beziehung zueinanderstehen. Zumindest gibt es einige Dutzend Studien, die nicht überzeugen und die grundlegenden Probleme nicht lösen können. Dazu gehört laut Kanning unter anderem den völlig veralteten Ansatz typologischer Persönlichkeitsbeschreibungen, fehlende überzeugende Belege über den Nutzen im beruflichen Kontext und eine fragwürdige Trennschärfe zwischen den neun Typen.

Auch die Sprachanalyse und die Analyse der Körpersprache mittels künstlicher Intelligenz sind Verfahren, die im Personalmanagement eingesetzt werden, um Informationen zur Persönlichkeit von Bewerbenden oder Mitarbeitenden zu erlangen. Obwohl diese im Gegensatz zu anderen Methoden im Buch, nicht komplett unsinnig sind, stellen sie derzeit keine nützlichen Instrumente im Personalmanagement dar. Die empirischen Belege sind nicht überzeugend und die vorhandenen Effekte fallen sehr gering aus. Es bleibt aber spannend, ob und welchen Fortschritt zukünftige Entwicklungen in diesem Feld bringen werden.

Fragwürdige Entwicklungsstufen nach Graves

In der Coachingszene finden psychologische Theorien eine gewisse Popularität, die erstaunlicherweise an den Universitäten und in der Forschung gar nicht oder kaum vertreten sind. Dazu gehören die Entwicklungsstufen, die sich der US-amerikanischen Psychologen Clare W. Graves ausgedacht hat. Jede menschliche Existenz (aber auch die Menschheit) kann sich in einer Abfolge von acht Stufen entwickeln. Höhere Stufen erscheinen Graves wertvoller als niedrigere Stufen. Die Stufen müssen nicht alle durchlaufen werden und auch das Zurückfallen auf eine niedrige Stufe ist möglich.

Diese Entwicklungsstufen tauchen in verschiedenen Konzepten und Beratungsangeboten auf, insbesondere im Bereich der Organisations- und Personalentwicklung und im Coaching. Viele Annahmen sind völlig unbelegt. Zum Beispiel ist unklar, warum es genau acht und nicht eine andere Anzahl an Stufen gibt. Laut Kanning bleibt auch rätselhaft, welche Methoden und Ergebnisse Graves überhaupt untersucht hat. Doch ohne empirische Überprüfung ist seine Theorie wertlos. Das steht im krassen Widerspruch zur Wahrnehmung der Stufen-Theorie in der Coaching- und Beraterszene. Dort wirkt sie auf den unbedarften Beobachter so, als handle es sich um eine der einflussreichsten und besten Theorien aller Zeiten. Der Autor sieht in diesem Ansatz eher eine Sammlung unausgereifter und widersprüchlicher Ideen.

Er stellt auch fest, dass viele Anbieter von Coaching-Methoden wie NLP (Neuro-linguistisches Programmieren), pferdegestütztem Coaching oder neuen neurowissenschaftlichen Ansätzen, den Anschein erwecken, wissenschaftlich fundierte Konzepte zu vermarkten. Allerdings stützen sie sich oft auf Bachelor- oder Masterarbeiten, die als „wissenschaftliche Studien“ präsentiert werden, aber in der Regel keine neuen Erkenntnisse liefern. Angemessene Untersuchungen in diesem Bereich sollten quantitative empirische Studien mit Kontrollgruppen und Längsschnittbetrachtungen umfassen. Solche Studien sind jedoch eher selten anzutreffen.

Der Psychologie-Professor hat einige der vorhandenen Studien analysiert. Dabei kritisiert er die weit verbreitete Haltung, dass die bloße Tatsache, dass etwas scheinbar wissenschaftlich untersucht wurde, noch keinen wissenschaftlichen Beleg darstellt. Oftmals zeigen die positiven Ergebnisse nur sehr geringe Effekte und stehen im Widerspruch zu etabliertem Wissen und den übertriebenen Behauptungen von Anbietern solcher Dienstleistungen.

Quantenquark und Neuroschnickschnack

Quantenphysik ist auch ein beliebtes Thema. Viele Menschen verstehen sie nicht und einige Berater stellen dabei absurde Annahmen auf. So wird behauptet, dass es die Existenz eines Energiefeldes gebe, in dem Informationen über Menschen oder Unternehmen gespeichert sind, und mit dem interagiert werden könne. Auch Aussagen, dass es keinen Unterschied zwischen unseren Gedanken und der materiellen Realität gibt, sind aufgrund ihrer fehlerhaften Interpretation der Quantenphysik einfach falsch. Kanning bemerkt, dass ähnliche Aussagen auch im Zusammenhang mit den Neurowissenschaften gemacht werden, die ebenfalls gern als Projektionsfläche genutzt werden, um pseudowissenschaftliche Ansätze zu legitimieren. In der Organisationsaufstellung beispielsweise spielen neben der Quantenphysik, teilweise auch „neurowissenschaftliche“ Ansätze eine Rolle. Bei einigen Anbietern werden zum Beispiel Dopamin oder Oxytocin (körpereigenen Botenstoffe) als Begründung für eine neurologisch fundierte Führung oder sogar Personalauswahl postuliert. Eines ist allen gemein, dass der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind und es ist erschreckend, auf wie wenig Widerstand solche Angebote in der Praxis und auch in den Medien stoßen.

Der Autor empfiehlt Führungskräften, die ihr Führungsverhalten verbessern möchten, sich dem Feedback ihrer Mitarbeitenden zu stellen. Dabei müssen sie nicht auf umstrittene Methoden wie Coaching mit Pferden, Führungstrainings mit Dirigenten, NLP-Kurse oder gar Bauklötzchen-Übungen zurückgreifen.

Im Bereich des Personalmanagements und der Unternehmensberatung herrscht Wild-West-Manier. Es gibt keine verbindlichen Standards, an die sich Anbieter halten müssen. Kanning hinterfragt die Annahmen dieser Methoden und fordert dazu auf, eine kritisch-reflektierte Haltung einzunehmen. Das Buch kann daher dabei helfen, Irrationalität und Pseudowissenschaften im (Personal-)Management und im Coaching zu vermeiden. Denn oftmals werden Methoden ohne angemessene Überprüfung vermarktet, die plausibel klingen und für die es eine Nachfrage gibt. In seinem Buch bedient sich der Autor auch unterhaltsamer Formulierungen. Das macht das Lesen angenehm, ohne die Qualität der Analyse zu beeinträchtigen. So ist ein spannendes, aber auch unterhaltsames Panoptikum des Irrationalen gelungen.

Uwe Kanning: Wider alle Vernunft. Coaching und HR-Management auf Abwegen. Lengerich: Pabst Science Publishers, März 2023, 344 Seiten, 30 Euro

 

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