Hochstapeln – Eine kulturelle Praktik in Bewerbungs- und Personalauswahlverfahren

Es ist einer der faszinierendsten Fälle von Hochstapelei in Deutschland gewesen. Der gelernte Briefzusteller Gert Postel, erschwindelte sich in den 1980er und 1990er Jahren trotz fehlender medizinischer Qualifikation verschiedene Positionen als Psychiater. Solche spektakulären Fälle von Hochstapelei sind zwar selten. Doch wie gelang es ihm, so viele Menschen, darunter auch Experten, so erfolgreich zu täuschen?

Die Soziologin Sonja Veelen beschäftigte sich im Rahmen ihrer Promotion mit dem Modus Operandi von Personalauswahlverfahren und die instruierenden Deutungsangebote von Bewerbungsratgeber-Literatur. Inwiefern bieten diese Anreize und strukturelle Chancen auf das Reüssieren durch täuschendes, unehrliches, betrügerisches oder hochstaplerisches Bewerbungshandeln? In ihrer Arbeit betrachtet sie die Bedingungen, Mechanismen und Techniken des Hochstapelns im Bewerbungsprozess. Um die Deutungen und Handlungslogiken der Personalauswählenden zu rekonstruieren, führte sie qualitative Interviews mit 22 Personalverantwortlichen und -beratern. Ferner analysierte sie 117 Publikationen der relevanten Bewerbungsratgeber.

Hochstapeln

Wo liegt die Grenze zwischen guter Selbstinszenierung und Täuschung oder gar Hochstapelei? Beim Lügen liegt eine sprachliche Täuschungsabsicht vor. Beim Blenden geht es mehr um Aufmerksamkeitslenkung, in dem der Wahrnehmungsfokus des Gegenübers beeinflusst wird. Das geschieht beispielsweise durch den Einsatz äußerer Vorzüge, wie selbstsicheres Auftreten oder vorhandener Attraktivität. So wird leicht über fehlende oder negative Aspekte hinweggetäuscht. Beim Hochstapeln spielt man dagegen eine Rolle, die einem Publikum eine höhere Position vortäuscht, als die spielende Person tatsächlich besitzt. Dabei kommen verschiedene Techniken wie Lügen, Fälschen, Täuschen oder Blenden zum Einsatz.

Je weniger bewerbungsrelevante Fakten mit geeigneten Methoden überprüft werden, desto größer ist die Anfälligkeit für (Selbst-)Täuschungen. Eine Echtheitscheck findet in der Praxis noch zu selten statt. Im Bewerbungsprozess zählt vielmehr die Darstellungskompetenz der Kandidaten und das Bauchgefühl der auswählenden Personen. Gute Karten hat, wer sympathisch, rhetorisch gewandt, offen und überzeugend ist. Auch ist es hilfreich, einen selbstbewussten, souveränen und teamorientierten Eindruck zu vermitteln, so die Autorin.

Dabei zeigt sie auf, dass die empirische Evidenz zum Vorkommen von Bewerbungs-Fakes und -Hochstapelei insgesamt recht dünn ist. Einzelne Befunde deuten zwar darauf hin, dass 40 bis 70 Prozent aller Lebensläufe geschönt sind. Aber eigentlich wissen wir wenig darüber, wie verbreitet und massiv das Phänomen ist.

Interviewanalyse

Die Interviews geben einen interessanten Einblick in die Perspektive der personalauswählenden Personen. Dabei zeigt sich, dass deren Fokus oft weniger auf der Täuschungserkennung, sondern vielmehr auf Passungsprüfung für den jeweiligen Job liegt. Sie verlassen sich auch eher auf ihr übliches Vorgehen, ihre Erfahrungen und ihr „Bauchgefühl“. Wenn die Einschätzung der Persönlichkeitseigenschaften und sozialen Kompetenzen jedoch vor allem durch Erscheinung, Verhalten und Erzählungen erfolgt, ist sie für Täuschungen anfällig.

Um die Gründe für diese allzu menschliche Täuschungsanfälligkeit zu verstehen, stellt die Autorin das Modell des bekannten Psychologen Daniel Kahneman vor. Dieser unterscheidet zwei Arten des Denkens: das schnelle Denken (System 1) und das langsame Denken (System 2).

Alle Informationen werden zunächst im Gehirn abgefangen, sortiert und gefiltert. Dabei funktioniert System 1 schnell und automatisch. System 2 hat die Aufgabe, die von System 1 aufbereiteten Gedanken und Handlungen zu kontrollieren. Dies erfolgt jedoch nur, wenn es dazu aufgefordert wird.

Die Autorin nennt verschiedene Fehlerquellen zwischen diesen beiden Systemen. Da ist zum einen der Umgang mit fehlenden Informationen. Das System 1 ist darauf spezialisiert aus den vorliegenden Informationen eine stimmige Geschichte zu konstruieren und Lücken durch Vermutungen zu ergänzen. Dieser Mechanismus ist schnell, intuitiv, emotional und ohne willentliche Steuerung. Eine weitere Fehlerquelle ist die verführerische Annahme, dass eine leichte Verarbeitung von Informationen ein untrügliches Zeichen für Wahrheit und Richtigkeit ist. Diese kognitive Leichtigkeit sorgt dafür, dass eine Geschichte, die gut aufgebaut ist und sich mühelos in unser Vorwissen und unsere Vorstellungen integrieren lässt, eher für wahr gehalten wird.

Wie gelingt es beim Hochstapeln das System 1 zu adressieren? Die Autorin schreibt, dass Vertrauen ein effektiver Mechanismus zur Reduktion von Komplexität ist. Wird das System 1 beispielsweise durch Sympathie oder Ähnlichkeit angesprochen, sinkt die Wahrscheinlichkeit für eine kritische Prüfung durch das System 2.

In den letzten Jahren kommt es vermehrt dazu, dass Bewerber ohne das Vorlegen von Nachweisen zu Jobinterviews eingeladen werden, damit die Hürden für begehrte Bewerbungen möglichst gering sind. Doch auch später finden Echtheitscheck von Dokumenten nur selten statt. Damit – so stellt die Autorin fest – ist das Hochstapeln bei Bewerbungen eine von Unternehmensseite zwar aus unerwünschte, aber dennoch unbeabsichtigt geförderte Praktik.

Aber auch der Kampf um die Aufmerksamkeit und die Wettbewerbsorientierung in der Arbeitswelt führen verstärkt dazu, die eigene Arbeitskraft als „Ware“ zu inszenieren.

Ratgeberanalyse

Etliche Bewerbungsratgeber vermitteln den Eindruck, dass es im Bewerbungsprozess spezielle, schwer zu durchschauende Spielregeln gibt, die man beherrschen müsse. Dabei geht es oft weniger um eine optimale und tatsachenbasierte Form der Selbstpräsentation, sondern darum, Tipps und Tricks zu vermitteln, um möglichst geeignet und passend zu wirken.

Durch die ganze Ratgeberliteratur ziehen sich teils implizite, teils explizite Anleitungen und Aufforderungen zum Täuschen, Lügen und Hochstapeln. Da dies gesellschaftlich kritisch gesehen wird, sind die Ratgeber mit Legitimierungsversuchen durchzogen. So wird beispielsweise die Marketing-Analogie gewählt. Demnach erwarten die Empfänger von der Werbung auch keine schonungslose Offenheit und Wahrheit. Vielmehr steht das Vermarkten der Vorteile im Vordergrund, um Kaufanreize zu setzen. Auch der Umgang mit größeren Lücken im Lebenslauf wird zur kreativen Herausforderung. Man solle sich eine glaubwürdige Geschichte ausdenken, die dann überzeugend präsentiert werden muss. Und solange es einen wahren Kern gäbe und die Unwahrheit auch nicht so einfach widerlegbar sei, könne eine erfundene Geschichte ihren Platz in die Bewerbung finden. Für die Autorin leistet die von ihr untersuchte Ratgeberliteratur daher einen instruierenden Beitrag zur Praxis des Hochstapelns bei Bewerbungen.

Das Buch liefert eine spannende Perspektive auf die Kulturtechnik des Bewerbens und der Personalauswahl und ihre wichtigen Schwachstellen. Einen Lösungsansatz sieht die Autorin im Einsatz einer professionellen Eignungsdiagnostik. Eine interessante Lektüre und eine fundierte Kritik an der gegenwärtigen Bewerbungspraxis.

Rouven Schäfer, Leiter Human Resources Management, DocCheck in Köln

Sonja Veelen: Hochstapeln – Eine kulturelle Praktik in Bewerbungs-
und Personalauswahlverfahren. Weinheim: Beltz Juventa, 2021, 34,95 Euro

 

Head of Human Resources Management, DocCheck AG

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