Die Praxis der Personalauswahl fördert indirekt – als eine Art unbeabsichtigte Nebenfolge – das Hochstapeln von Bewerberinnen und Bewerbern. Dies zeigt und erklärt eine wissenschaftliche Analyse und empirische Untersuchung.
„Ich erkenne das, joar, joar klar,“ antwortete ein Personalchef im Interview auf die Frage, ob er Bluffer, Angeber oder Aufschneider im Bewerbungsgespräch bemerke.
Eine Überzeugung, die er mit den von der Autorin befragten Führungskräften aus Unternehmen unterschiedlichster Branchen und Größen weitestgehend teilt. Dass Täuschung, Lüge und Hochstapelei von ihnen nicht unweigerlich als solche erkannt und entlarvt werden würde, erscheint ihnen tendenziell eher unwahrscheinlich.
Genau wie der Versuch des Hochstapelns selbst: „Man hört immer mal wieder mal von ganz spektakulären Fällen, wo jemand als Arzt tätig war […] ohne überhaupt ein Medizinstudium absolviert zu haben. Bei Juristen mag es Ähnliches gegeben haben. Also, ich denk, das sind nun ganz seltene Ausnahmefälle“, formulierte ein anderer die verbreitete Einschätzung, dass hochstaplerische Bewerbungen nicht oft vorkommen – zumindest keine „spektakulären“.
Hochstapeln – worum geht es hier eigentlich?
Klar, es geht dabei auch um die Frage: Wie spektakulär muss das Übertreiben sein, um als Hochstapeln bezeichnet und unternehmensseitig als inakzeptabel be- oder verurteilt zu werden?
Definitorisch gesehen handelt es sich um Hochstapeln, wenn Bewerbende „vortäuschen eine im sozialen Raum höhere Position zu haben, als sie tatsächlich aufgrund ihres vorhandenen und reproduzierbaren Kapitals und dessen Zusammensetzung besitzen, indem sie die Rolle des oder der besser zum Anforderungsprofil der angestrebten Stelle passenden Kandidaten bzw. Kandidatin reklamieren, als es faktisch der Fall ist“ (Veelen 2021, S. 36).
Mit anderen Worten: Wer die Personaleinstellenden glauben macht, bessere Qualifikationen, Noten, Zeugnisse, geeignetere Persönlichkeitseigenschaften, Joberfahrungen oder andere für die Jobposition relevante Kapitalien zu haben, stapelt hoch.
Dabei sind die Grenzen zuweilen fließend, zwischen dem, was gemeinhin noch unter das Label des Impression Management fällt – und damit zur akzeptierten und teils erwarteten selbstbewussten und positiven Selbstdarstellung gehört – und dem, was als unerwünschte, inakzeptable Tatsachenverzerrung gilt.
Klar überschritten ist die Grenze zum Täuschen und Hochstapeln, wenn beispielsweise Testate gefälscht, Arbeitsverhältnisse und jobrelevante Qualifikationen behauptet werden, die es in der realen Vita nicht gab und gibt – wenn es also zweifelsfrei kriminell wird.
Doch wie verhält es sich mit einem Auslandsaufenthalt, der sich als touristische Kurzreise entpuppt? Mit Jobpositionen, die im Lebenslauf stehen, aber von der Bewerberin faktisch nie ausgeführt worden sind? Handelt es sich um Hochstapelei, wenn eine Arbeitslosigkeit mit einer Scheinselbstständigkeit oder Angehörigenpflege „kaschiert“ wird, ein längerer Klinikaufenthalt sich auf dem Papier als „Selbststudium“ ausnimmt und die Liste der angeblich eigenen Publikationen mehr Phantasiegebilde denn Abbild tatsächlicher Veröffentlichungen ist?
Natürlich ist es das – sagen sowohl die Definition als auch die von der Autorin Interviewten. Nur: Wie lässt sich das Fingierte vom Faktischen unterscheiden? Wie versuchen die Unternehmen eine fake-reiche von einer faktenbasierten Bewerbung zu unterscheiden?
Zum Umgang mit hochstaplerischer Täuschung
Hier wird eine notgedrungen pragmatische und letztlich das Hochstapeln akzeptierende Strategie verfolgt: Zwar verurteilt man derartige Lügen und Täuschungen und würde gern vermeiden, jemanden einzustellen, der so agiert und taktiert, doch es fehlen die Mittel, ein derartiges Handeln rasch, sicher und mit hundertprozentiger Trefferquote aufzudecken.
Mangelnde Zeit und wirtschaftliche Ressourcen verhindern eine intensive Prüfung der Unterlagen und Angaben ebenso wie gesetzliche Beschränkungen bei der Auskunfts-Einholung und für Frageoptionen im Einstellungsinterview (Veelen 2021, Kap. 3).
Zudem könne man niemandem „in den Kopf hineinschauen“ (Interviewte in Veelen 2021, S. 161), räumen die Personalverantwortlichen auf Nachfrage so oder in ähnlich klingenden Worten ein; ungern allerdings. Denn – so zeigt die Analyse – ihre Jobrechtfertigung besteht ja eben darin, dass sie zweifelsfrei und zielsicher in der Lage sind, effizient die Besten aus dem Pool der Kandidaten und Kandidatinnen zu fischen. Ein Griff nach Täuschungskünstlern, die sich im Nachgang als Luftnummer entpuppen, schadet nicht nur dem Unternehmen, sondern zuvorderst dem Ruf der Auswählenden.
Man nähert sich also der Täuschungserkennung pragmatisch und faktisch nur an: Zum Beispiel durch teils mehrere und/oder mehrstündige Interviews, durch die Beteiligung verschiedener Personen und damit mehrere Perspektiven auf die Kandidatinnen und Kandidaten, in selteneren Fällen auch durch praktische Übungen. Aber immer wird die Lücke zwischen dem vermeintlich nicht Überprüfbaren und dem Wissenswerten durch etwas gefüllt, das die Auswählenden für ziemlich unfehlbar halten: ihre eigene Intuition.
Obwohl sie rational wissen, keine hundertprozentige Trefferquote erreichen zu können, sind sie doch davon überzeugt: Sollte jemand so dramatisch lügen, dass jobrelevante Qualifikationen und Kompetenzen nur vorgetäuscht werden, dann würde sich das spätestens im Interview oder während der Probezeit – zeigen (Veelen 2021, Kap. 3).
Doch Vieles spricht dafür, dass diese Annahme mehr dem Wunsch denn einer real validen Einschätzung entspricht.
Warum Täuschung unerkannt bleiben kann
Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Wissenschaft – allen voran die Psychologie – mit der Erstellung und Optimierung von Instrumenten, die mit einer höheren Trefferquote Falschangaben von Jobkandidatinnen ermitteln und Passungen immer besser identifizieren können. Doch ihre Mittel und Erkenntnisse finden keine allzu große Akzeptanz und Verbreitung in der Praxis. Sicher nicht zuletzt auch aus ökonomischen Gründen, vor allem aber, weil man ihnen weniger traut als den eigenen Antennen.
Und so kommt es, dass in der Praxis beispielsweise vermehrt und mit großer Leidenschaft und Überzeugung das unstrukturierte, bauchgeleitete und gefühlsbewertete Gespräch die Regel und das Instrument der Wahl ist (Veelen 2021, Kap. 1.2 und S. 91 sowie Weuster 2012). Obwohl wissenschaftlich erwiesen strukturierte, also immer exakt gleich aufgebaute Interviews mit den exakt gleichen Fragen in der exakt gleichen Reihenfolge deutlich besser und aussagekräftiger in Bezug auf Pr…
Dr. Sonja Veelen, promovierte Soziologin, tätig im Wissenschaftsmanagement der Philipps-Universität Marburg