Marburger Coaching-Studie: Sind die Plattformen nur ein Hype?

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Der Coaching-Markt wächst, trotz starker Einbrüche durch die Pandemie. Die Preise sind stabil und die Coaching-Plattformen werden nur selten genutzt. Das zeigt die fünfte Marburger Coaching-Studie. Ein Interview mit Professor Michael Stephan,  dem  Verfasser der Studie.

Derzeit ist oft von den Coaching-Plattformen die Rede, die den Markt radikal verändern werden. Hat sich das in Ihrer Studie bestätigt?

Das Thema Coaching-Plattformen wird in der aktuellen Diskussion sehr stark „gehypt“. In unserer Studie haben wir vor dem Hintergrund dieses Hypes die faktische Relevanz von Coaching-Plattformen näher untersucht. Zunächst ist zu klären, was genau unter einer digitalen Plattform zu verstehen ist? Es macht Sinn, verschiedene Plattformtypen zu unterscheiden. Die traditionelle Variante bilden Vermittlungsplattformen. Hier führt die Plattform Coaches und Klienten lediglich zusammen. Ein Beispiel wäre die Rauen Coach-Datenbank. Das Coaching selbst findet außerhalb der Plattform statt. Man kann das vergleichen mit Partnerbörsen wie z. B. Tinder. Bei den Transaktionsplattformen findet die komplette Coaching-Dienstleis­tung über die Plattform statt. Der Klient sucht sich über die Plattform den passenden Coach, schließt den Vertrag und auch die Coaching-Dienstleistung wird in der Regel digital über die Plattform abgewickelt. Hier ist der Coach de facto Mitarbeiter des Plattform-Betreibers.  Welche faktische Relevanz haben diese Plattformen? Bisher dominieren die reinen Vermittlungsplattformen. Nur insgesamt 17 Prozent der Coaches und 13 Prozent der Unternehmen sind auch auf den Transaktionsplattformen unterwegs. Das ist viel weniger als ich eigentlich gedacht habe. Das scheint noch ein Hype zu sein. Da hätte ich mehr erwartet, weil das Plattformthema eine unheimliche mediale Aufmerksamkeit hat. Die werden aber offenbar gar nicht oder selten genutzt. Es kann natürlich auch sein, dass wir über Studie den klassischen Plattform-Nutzer nicht erreicht haben. Das klassische Business-Coaching findet im digitalen Plattform-Raum aber noch relativ wenig statt.

Wächst der Coaching-Markt noch? Oder hat er bereits eine Sättigung erreicht?

Der Markt hat in den letzten 15 Jahren kontinuierlich mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von zehn Prozent zugelegt. Dann kam Corona und nach Jahren des ungebrochenen Wachstums hat die Entwicklung  zum ersten Mal einen starken Dämpfer erhalten. Dies legen mehrere Indikatoren in der Studie nahe. So sind die Umsätze der Coaches in 2020 im Vergleich zum Vorjahr um fast 20 Prozent eingebrochen. Auch die Anzahl der Aufträge ist zurückgegangen. Der Markt hat sich in 2021 wieder deutlich erholt, hat aber noch nicht wieder das Niveau vor der Pandemie erreicht. Wir gehen, trotz der aktuellen Rezession, von einem weiteren Wachstum des Marktes aus. Das legen die Aussagen der Unternehmen nahe. So hat sich in den letzten fünf Jahren die Zahl der extern vergebenen Coachingaufträge durch die Unternehmen verdoppelt.

Wie viele Coaches und Unternehmen haben teilgenommen?

504 Coaches auf der Angebotsseite und bei den Unternehmen, also den Kunden, sind es 181. Wir sind prinzipiell zufrieden, bei den Coaches hätten es gerne etwas mehr Teilnehmer sein dürfen, aber den Personalmanagern freuen wir uns über die gute Resonanz.

Sie haben im Vorfeld mit Fokus-Gruppen diskutiert. Welche Themen waren da relevant?

Bevor wir den Fragebogen aufgesetzt haben, haben wir drei Fokus-Gruppen gebildet, in denen wir Coaches, Personalentwickler und Experten eingeladen haben, um unbeeinflusst über Themen und Trends zu diskutieren. Wir haben offen und explorativ gefragt, wie sich der Markt entwickeln wird. Ein sehr wahrscheinliches Szenario ist die Entwicklung in zwei Segmente: Einerseits wird das klassische Coaching bleiben, was nicht bedeutet, dass es auch nicht digital stattfinden kann. Aber es erfordert viel Methodenkompetenz. Und auf der anderen Seite wird es Coaching-to-Go Formate geben. Viele Transaktionsplattformen bedienen vor allem Just-in-Time-Fragestellungen. Hier ist Coaching weniger eine reflexive Prozessbegleitung als vielmehr Beratung mit Ratschlag. Man hat eine Frage und die möchte man relativ schnell beantwortet haben. Man braucht eine schnelle Lösung und keine lange Prozessbegleitung. Die meisten haben der Prognose zugestimmt, dass es sich in diese beiden Richtungen gehen wird. Nur was die konkrete Entwicklung der Marktvolumina angeht, darüber besteht Unklarheit. Die Studie hat das dann auch bestätigt. Wir haben die Coaches nach ihrem Selbstverständnis gefragt: „Bist du eher ein klassischer Prozessbegleiter oder ein Just-in-time-Anbieter“? Die Mehrzahl sieht sich als Prozessbegleiter und nur ein kleiner Teil als Just-in-Time-Anbieter. Und die meisten Coaches sehen sich als Face2Face-Coaches. Coaching muss in Präsenz stattfinden. Das klassische Coaching ist im Moment also noch dominierend.

Wie repräsentativ ist die Studie?

Das kann man nicht ganz genau sagen. Man kennt ja die Grundgesamtheit nicht. Um Repräsentativität zu schaffen, ist es wichtig, eine möglichst große und breite Stichprobe zu generieren. Wir versuchen in der Studie möglichst viele heterogene Kanäle zu nutzen. Wir haben alle Coaching-Verbände und unser gesamtes Netzwerk instrumentalisiert und so versucht, Repräsentativität zu schaffen. Aber das ist natürlich eingeschränkt, denn den gesamten Markt kennt ja niemand, da es ja keine Voraussetzung für den Beruf gibt.

Was sind Coaching-Anlässe?

Die Pandemie hat natürlich viele neue Themen erzeugt. Führen auf Distanz haben über 50 Prozent der Befragten haben das als neuen Anlass angegeben. Themen wie Resilienz und Burnout bzw. Stresse nennen je ein Drittel. Auch spannend: Ein Fünftel hat digitale Medienmüdigkeit angeben.

Wie akquirieren Coaches ihre Kunden?

Die klassische Warmakquise ist mit Abstand die häufigste Methode, dann das Abtelefonieren von Referenzkunden, erst dann kommen klassische Marketingmaßnahmen. Die Homepage ist mit Abstand das wichtigste, dann Corporate Design, die eigene Marke und Social Media, aber da nur LinkedIn oder XING. Die Marketingausgaben belaufen sich im Schnitt auf 3.465 Euro pro Jahr, wobei das etwas relativiert wird, weil wir auch Nennungen hatten, die in den sechsstelligen Bereich gegangen sind. Über ein Drittel investiert maximal 500 Euro.

Und wie suchen Unternehmen ihre Coaches?

Da dominiert auch die Warmakquise und Empfehlungen aus dem eigenen Netzwerk. Kaltakquise oder Social Media wird nur schwach benutzt. Eigene Fachbücher, Podcasts, Artikel in Fachzeitschriften spielen im Schnitt gar keine Rolle. Die Personalentwickler schauen sich das nicht an. Das wird alles völlig überschätzt. Von daher sollten sich Coaches gut überlegen, ob es sinnvoll ist, teure Seminare zur Selbstvermarktung über Social Media zu belegen.

Wie haben sich die Preise entwickelt?

Die Differenz zwischen dem, was die Coaches und die Unternehmen sagen, ist sehr gering. 2010 lagen der durchschnittliche Stundensatz noch bei 180 Euro, 2015 bei 220 Euro, in der Pandemie ist er leicht abgesackt und liegt aktuell in 2022 bei 225 Euro. Seit Mitte der 2010er Jahre sind die Stundensätze eigentlich stabil geblieben.

Welche Faktoren werden den Markt zukünftig prägen?

Wir haben die Teilnehmer gebeten, auf einer Skala 0 bis 4 anzukreuzen, was den Coachings-Markt zukünftig beeinflussen wird. Mit einem Wert von 3 war ganz vorne die Digitalisierung der Coaching-Formate. Auf den folgenden Rängen mit Werten von um die 2,5 findet sich die Nachfrage nach Just-in-Time-Formaten, neue Wettbewerber und Plattform-Geschäftsmodelle sowie der Preisdruck durch Digitalisierung. Eine  Konzentration und Konsolidierung wie im angelsächsischen Raum hin zu großen Personalentwicklungs-Dienstleistern sehen wir nur wenig. Die Internationalisierung betrachten viele gar nicht als Thema. Das deckt sich auch mit der Frage der Sprache. Coaching wird überwiegend in Deutsch angeboten.

Welche Rolle spielen die Coaching-Verbände?

Als Wettbewerbsfaktor so gut wie keine. Ein Schwachpunkt ist weiter die unglaubliche Fragmentierung der Verbandslandschaft. Mit jeder Coaching-Studie lerne ich neue Verbände kennen. Jetzt haben wir insgesamt 35 Verbände aufgelistet. Wir haben gefragt, ob die Fragmentierung der Verbände ein hemmender Faktor für die Entwicklung des Coaching-Marktes ist. Die Verbände könnten ja auch eine strukturprägende Rolle übernehmen, zum Beispiel auf politischer Ebene so wie bei den Psychotherapeuten. Das spielt jedoch noch keine Rolle. Ich glaube auch nicht, dass wir in den nächsten Jahren hier eine Konsolidierung erleben werden. Aber wir planen eine Sonderstudie nur zu der Rolle und Funktion von Verbänden. 43,7 Prozent der befragten Coaches gehören einem Verband an. Drei Gründe sind für die Verbandszugehörigkeit dominierend: Am wichtigsten wird Qualitätssicherung eingestuft wird, gefolgt von der Reputationsbildung durch Verbandszugehörigkeit und der Netzwerkbildung. Die Kundenakquise spielt nur bei manchen Verbänden eine wichtige Rolle.

Was hebt Sie eigentlich von den anderen Coaching-Studien ab?

Wir sind keine Coaches! Wir betrachten den Markt aus neutraler Warte heraus und tun das aus wissenschaftlichem Interesse. Wir haben keine eigenen Eisen im Feuer. Die Studie ist die, die es am längsten gibt. Auch wenn wir den Takt ein bisschen durchbrochen haben wegen der Pandemie und von 2020 auf 2021/ 2022 verlagert haben. Wir haben damit eine Zeitreihe und einen Längsschnitt, den wir abbilden können. Wir haben im Panelteil immer die gleichen Fragen, fragen die Strukturparameter ab, wie Stundensätze, Wettbewerbsfaktoren und wirtschaftliche Aspekte. Auch vom Detaillierungsgrad gibt es keine vergleichbare Studie. Natürlich gibt es gute andere Studien. Das sehe ich gar nicht als Konkurrenz an. Es ist ein gutes Zeichnen für den Coaching-Markt, wenn es mehrere Studien gibt, die sich damit beschäftigen.

Was erwarten Sie künftig auf dem Coaching-Markt?

Ich bin sehr gespannt, ob diese Entwicklung zu digitalen Plattformen sich so bewahrheitet oder ob das nicht ein typischer Hype-Cycle ist. Neue Technologien und neue Formate haben am Anfang immer eine enorme mediale Aufmerksamkeit. Es entstehen viele Startups und alle reden drüber. Aber am Ende gibt es oft ein Tal der Tränen. Die Frage ist, ob der Markt für digitale Coaching-Plattformen auch wirklich so stark abhebt, wie das im Moment viele prognostizieren. Oder ob das nicht eher in so was wie ein Trainings- und Beratungsformat abdriftet. Ich werde auch oft angesprochen von Vermittlungsagenturen, ob ich als Experte für Marktforschung zur Verfügung stehe. Dahinter stecken oft große Kunden, Personalentwicklungsdienstleister aus den USA oder dem angelsächsischen Raum, die noch sehr viel Entwicklungspotential im deutschen Markt sehen. Ich lehne das immer ab. Da sind große Begehrlichkeiten vorhanden. Ich persönlich bin eher skeptisch, ob wir bis zur nächste Coaching-Studie wirklich eine signifikante Entwicklung sehen. Die meisten Coaches werden das eher als Ergänzung zu ihrem Stammgeschäft nehmen. Was mich eher umtreibt, wie sich die Coaching-Anlässe entwickeln. Da war auch bei Experten große Unsicherheit da. Die Anlässe, die genannt wurden, war eher konservativ. New Work war sehr schwach, Teilzeit-Führung wurde gar nicht genannt oder das Riesenthema demographischer Wandel. Das hat ja ganz vielfältige Auswirkungen auf das Coaching.

Das Interview führte Bärbel Schwertfeger.

Professor Michael Stephan ist Leiter der Arbeitsgruppe Technologie- und Innovationsmanagement im Fachbereich Betriebswirtschaftslehre an der Philipps-Universität Marburg.

 

Bärbel Schwertfeger ist Diplom-Psychologin, seit 1985 freie Journalistin und Chefredakteurin von WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE HEUTE.

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