Moderne Führung und Selbstorganisation – Mit psychologischem Wissen Zukunftskompetenzen entwickeln

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Selbstführung und Selbstorganisation gewinnen an Bedeutung, da Organisationen immer schneller entscheiden müssen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Doch werden Algorithmen zukünftig nicht die besseren Entscheidungen treffen und die Menschen in der Arbeitswelt ersetzen? Eines scheint klar zu sein: Künstliche Intelligenz ist in stabilen und auf Regeln basierenden Situationen uns Menschen vielfach überlegen. In instabilen Situationen, die sich durch Ungewissheit auszeichnen (wie auch im Wirtschaftsleben), zeigt sich aber die Überlegenheit menschlicher Intelligenz. Doch die Art, wie wir zusammenarbeiten und wie Führung aussieht, wird sich ändern. Wie diese Veränderungsprozesse psychologisch fundiert unterstützt werden können, beschreibt die promovierte Wirtschaftspsychologin Stefanie Puckett in ihrem neuen Buch.

Veränderungen sind oft unbequem. Dennoch spricht sich die Autorin für einen gelasseneren Umgang damit aus und plädiert dafür, das Verlassen der Komfortzone auch als Entwicklungschance zu betrachten. Dabei zitiert sie den Automobilpionier und Erfinder Henry Ford: „Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist“.

Selbstreflexion als Schlüsselkompetenz aufbauen

Die Autorin beschreibt zahlreiche Fälle, in denen talentierte Führungskräfte gescheitert sind. Die Gründe sind vielschichtig. In einigen Fällen lag es am Verhalten oder den mangelnden Kompetenzen, doch die Hauptfaktoren liegen oft in der Persönlichkeit. Der berufliche Erfolg als Führungskraft hängt daher auch von ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion ab. Ein kurzer Fragebogen zur Selbsteinschätzung beleuchtet die typischen Risikofaktoren für ein Derailment (Entgleisung), wie es im Fachjargon heißt. Darunter fallen beispielsweise: eine starke Wettbewerbsorientierung und die Unterschätzung der Bedeutung von Zusammenarbeit, ein hoher Perfektionismus, eine Scheu vor neuen Methoden und Tools und der Anspruch, alles selbst wissen zu müssen.

Wichtig für den Erfolg sei es, das Lernen in den Vordergrund zu rücken. Dazu stellt die Autorin das Konzept der Stanford-Psychologin Carol Dweck vor, die in ihrem Buch „Mindset“ zwischen zwei zentralen Denkweisen unterscheidet: Bei der am Stillstand orientierten Denkweise wird die Persönlichkeit als stabil betrachtet und Erfolg wird als Bestätigung der eigenen Fähigkeiten angesehen. Fehler werden vermieden. Die am Wachstum orientierte Denkweise geht dagegen davon aus, dass sich Persönlichkeit und Kompetenzen entwickeln können. Herausforderungen und Fehler werden daher als Lernchance wahrgenommen.

Wo Flexibilität Grenzen benötigt

Flexibilität beim Arbeitsort und bei der Arbeitszeit, so wie es für ein Projekt und auch für einen selbst am besten ist, erfordert auch die Kompetenz, sich sinnvolle Grenzen zu setzen. Denn viele fühlen sich durch die zeitliche und örtliche Entgrenzung gefordert und oft sogar überfordert. Führungskräfte haben hier eine wichtige Funktion, sich selbst, aber auch für die Zusammenarbeit einen angemessenen Rahmen zu bilden. Dabei stellt die Autorin das Konzept Mindfulness (Achtsamkeit) vor, also die Fähigkeit, sich auf die Gegenwart zu fokussieren. Zudem sieht sie vier herausfordernde Bereiche der „neuen Arbeit“:

Bereich 1: Keine Struktur, keine Routine, keine Ausreden mehr: Hier gilt es Erwartungen zu klären, Abstimmungen und Absprachen zu treffen und auch Grenzen zu ziehen.

Bereich 2: Keine Pausen mehr: Pausen sollten eingeplant werden. Abschalten ist wichtig und sollte auch wörtlich genommen werden mit der Abschaltung der Arbeitsgeräte.

Bereich 3: Informationsflut, Aufgabenflut und Unterbrechungen: Es ist wichtig, nach dem Pull-Prinzip (Informationen aufnehmen, wenn sie gebraucht werden) Kontrolle über aufgenommenen Informationen zu übernehmen. Hier gilt: eins nach dem anderen. Denn Multitasking ist ein Mythos und es kostet viel kognitive Energie, sich ständig neu in eine Aufgabe hinein denken zu müssen. Dabei sollten auch Puffer eingeplant und Zeiten, in denen man nicht erreichbar ist, festgelegt werden.

Bereich 4: Entscheide du, wie du arbeitest: Früher erhielten Mitarbeitende Aufgabenlisten und diese wurden abgearbeitet. Heute setzten viele Unternehmen auf Selbstorganisation und die Fähigkeit, selbst zu entscheiden, wie man seine Arbeitskraft optimal einsetzen kann. Und diese Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, also die Möglichkeit, Aufgaben selbst zu steuern, Einfluss zu haben und Kontrolle über seine Arbeit auszuüben, stelle eine wesentliche Voraussetzung für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz dar, so die Autorin.

Auch wenn viele Führungskräfte noch im Kommando-und-Kontroll-Denken sozialisiert wurden, gebe es zunehmend Entwicklungen, die Eigenverantwortung und Selbstorganisation in den Fokus rücken. Dabei gilt es, Mitarbeitende für eine Idee zu gewinnen und den Sinn einer Entscheidung zu vermitteln. Auch fragen sich viele Führungskräfte, wie sie ein optimales Team aufbauen können. Der Brite Meredith Belbin hat hierfür eine Typologie von Menschen entwickelt, die dabei helfen soll, den Teamerfolg sicherzustellen. Belbin identifizierte neun Teamrollen, beispielsweise die des Machers, Koordinators oder Erfinders. Die Autorin stellt das beliebte Modell kurz vor, ohne jedoch die Kritik daran zu erwähnen. Denn Belbins Modell und seine Forderung nach einem Gleichgewicht bei den Rollen als Schlüssel für verbesserte Teamleistung wird durch empirische Forschung nicht überzeugend bestätigt. Kritik gibt es auch an dem Test zur Rollenbestimmung, der wichtige Standards psychologischer Forschung nicht erfüllt. Das fragwürdige Rollenmodell sollte daher, analog zu den typologischen Persönlichkeitsmodellen, nicht unkritisch promotet werden.

So erfolgreich Teamarbeit auch sein kann, es gibt auch psychologische Fallstricke. Die Autorin nennt zum Beispiel das soziale Trittbrettfahren, also die Annahme, dass Menschen weniger hart arbeiten, wenn sie Teil einer Gruppe sind und die eigene Leistung weder kontrolliert wird noch sichtbar ist. Reagiert eine Gruppe nicht angemessen auf Risiken oder in Krisen, könnte es sich um einen Fall von Verantwortungsdiffusion handeln. Je mehr Menschen in einer Gruppe sind, desto weniger wird die individuelle Verantwortung wahrgenommen. Ein anderes Phänomen ist die Tendenz zur Konvergenz. Hier stellen Teams implizite Gruppennormen auf und üben einen entsprechenden Anpassungsdruck auf ihre Mitglieder aus. Das ist zwar völlig normal, kann aber zum Problem werden, wenn Teamnormen in Konflikt mit der Umwelt geraten. Die Autorin empfiehlt daher, Teams auch mal neu zu mischen. Dadurch können neue Impluse aufgegriffen, Flexibilität und Vielseitigkeit bewahrt werden. Vom Not-invented-here-Syndrom spricht man, wenn Gruppen Ideen, die sie nicht selbst entwickelt haben, für nicht so gut halten, da man ansonsten ja selbst auf die Idee gekommen wäre.

Wesentliche Zukunftskompetenzen sieht die Autorin in einer klugen Entscheidungsfähigkeit, einer klaren Lösungsorientierung und einer gelebten Kreativität. Dabei sei der Abgleich mit der Realität durch Feedback, Evidenz und Reflexion besonders wichtig.

Wer psychologisch fundierte Impulse für seine Führungsrolle erwartet, erhält in dem Buch Anregungen, sich selbst neu auszurichten und persönlich zu wachsen. Die 15 Kapitel werden durch ansprechende Farbgrafiken sehr lesefreundlich illustriert. Die Autorin bietet ferner Checklisten, Übersichten und Reflexionsfragen im Buch und zum Downloaden an. Insgesamt ein gelungenes Buch für neue und erfahrene Führungskräfte, die sich mit den psychologischen Grundlagen moderner Führung beschäftigen möchten.

 

Stefanie Puckett: Moderne Führung und Selbstorganisation. Mit psychologischem Wissen Zukunftskompetenzen entwickeln, Freiburg: Haufe Verlag 2021, 262 Seiten, 39,95 Euro

 

Head of Human Resources Management, DocCheck AG

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