Noise – Was unsere Entscheidungen verzerrt und wie wir sie verbessern können

Shutterstock ©GNT Studio

Die Forschung aus mehreren Jahrzehnten hat belegt, dass unsere Urteile und Entscheidungen oft sehr fehlerbehaftet sind. Die Betrachtung der Ursachen fokussierte sich bisher stark auf die kognitiven Schwächen der Urteilenden und emotionale oder motivationale Gründe für Verzerrungen bei Denkprozessen. Bekannt ist beispielsweise die Bestätigungstendenz, also die Neigung, Informationen so zu selektieren und zu interpretieren, dass sie die eigene Meinung bestätigen.

Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat diese kognitiven Verzerrungen in seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ anschaulich dargestellt. Mit seinen beiden Co-Autoren Oliver Sibony und Cass R. Sunstein hat er nun eine weitere, sehr wichtige und bisher unterschätzte Ursache von Fehlern bei Urteilen und Entscheidungen identifiziert: Noise („Rauschen“). Dabei geht es um den Faktor Zufall bei der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung.

Eine Verzerrung (Bias) liegt den Autoren zufolge vor, wenn es bei Urteilen Abweichungen in eine bestimmte Richtung gibt, die Entscheidungen also auf vorhersehbare Weise abweichen oder verzerrt sind. Werden diese Fehler beseitigt, bleibt dennoch Noise übrig, im Sinne einer ungewünschten Variabilität. Diese Zufallsstreuung kann erheblich sein, gerade in Fällen, in denen es auf die Treffgenauigkeit von Urteilen und Entscheidungen ankommt.

Die Autoren führen verschiedene Beispiele an: Richter, die bei gleicher Faktenlage dennoch recht unterschiedliche Strafmaße verhängen, abhängig von der Stimmung während der Verhandlung oder der Außentemperatur. Ärzte, die bei denselben Patienten zu unterschiedlichen Diagnosen kommen, insbesondere in der Psychiatrie. Und in Organisationen wird die Leistung der Mitarbeitenden oft sehr unterschiedlich bewertet.

Selbst bei der Interpretation von Röntgenaufnahmen gibt es eine hohe Zufallsstreuung. Experten, die Fingerabdrücke von einem Tatort erhielten und prüfen sollten, ob diese einem Tatverdächtigen zugeordnet werden konnten, kamen zu unterschiedlichen Urteilen. Noch gravierender ist der Befund, dass Sachverständige zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, wenn ihnen dieselben Fingerabdrücke zu verschiedenen Zeitpunkten vorgelegt werden.

Die Autoren beschreiben drei Arten von Noise:

  • Das personenspezifische Rauschen: Der „Level-Noise“ bezieht sich auf die Schwankungen der durchschnittlichen Urteile verschiedener Personen. Einige Ärzte verschreiben mehr Antibiotika als andere. Personaler bewerten Profile sehr unterschiedlich. Ein Grund ist die Uneindeutigkeit von Urteilsskalen, etwa wenn jemand auf einer Skala von 0 bis 10 eine 8 auswählt, so hat das für jeden eine unterschiedliche Bedeutung.
  • Das individuelle Rauschmuster: Ein Beispiel für die zweite Art von Noise, des „Pattern-Noise“, ist die unterschiedliche und personenspezifische Reaktion von Personalern auf dieselbe Faktenlagen im Rahmen der Personalauswahl. Der eine achtet besonders streng auf den Notendurchschnitt, der andere ist dabei etwas nachsichtiger, legt aber größeren Wert auf höfliches Verhalten. „Pattern-Noise“ entsteht vor allem, wenn mehrere, sich widersprechende Hinweise gewichtet und beurteilt werden sollen, wie es in der Personalauswahl üblich ist. Denn die subjektiv stimmige Geschichte hängt dann stark von den individuellen Vorlieben und Werten der Urteilenden ab.
  • Das situative Rauschen aufgrund flüchtiger äußerer Einflüsse (Occasion-Noise): Es zeigt sich beispielsweise, wenn ein Radiologe aus derselben Röntgenaufnahme an verschiedenen Tagen oder zu verschiedenen Tageszeiten zu unterschiedlichen Einschätzungen kommt. Oder Richter, die am Folgetag nach einem Sieg der örtlichen Footballmannschaft, nachsichtiger urteilten.

Auch Vorstellungsgespräche sind meist verrauscht. So gibt es Belege dafür, dass der berühmte erste Eindruck einen großen Einfluss auf die Einstellungsempfehlung hat. So würden Interviewer bei einem positiven ersten Eindruck weniger Fragen stellen und tendenziell dazu neigen, stärker das Unternehmen anzupreisen.

Belohnung durch stimmige Geschichte

Wenn Noise so präsent ist und solche gravierenden Folgen hat, warum fällt er bisher nur so selten als störend auf? Die Erklärung ist einfach: Weil Menschen mit ihren Urteilen oft sehr zufrieden sind. Das liegt weniger an der Genauigkeit ihrer Vorhersagen, ihrer scharfen Analysefähigkeit oder der erdrückenden Last der Fakten. Vielmehr ist es die Belohnung dafür, dass wir die Fakten und Urteile zu einer stimmigen Geschichte zusammengefügt haben.

Auch erfahrene und hierarchisch hochstehende Menschen in Unternehmen vertrauen gern auf ihren Bauch bzw. ihre Intuition. Und ihre Entscheidungen fühlen sich dann in einem hohen Maße richtig und plausibel an, ohne die Gründe dafür deutlich artikulieren zu können. Diese emotionale Erfahrung, dass die Daten sich richtig anfühlen, maskiert sich als rationales Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit, so die Autoren.

Auch unser kausales Denken erzeugt Geschichten, in denen Menschen, Objekte, Ereignisse aufeinander einwirken und wenn das Ende bekannt ist, im hohen Maße erklärbar zu sein scheinen und so ein stimmiges Gefühl vermitteln. Die zahllosen möglichen Weggabelungen und Zufälle hätten jedoch auch alternative Erzählungen als in hohem Maße plausibel erscheinen lassen können.

Aber wie lässt sich die Urteilsbildung verbessern? Die Autoren erläutern einige Strategien zur Verringerung von Noise und heben dabei besonders die Entscheidungshygiene vor. Dieser Begriff ist bewusst an die gesundheitliche Hygiene und die Prävention durch das Händewaschen angelehnt. Das gründliche Händewaschen verhindert, dass potenziell schädliche Erreger in unseren Körper gelangen, ohne dass wir wissen, ob und wie viele wir an den Händen haben. So werden Fehler vermieden oder Schädigungspotenziale reduziert, ohne dass wir wissen (müssen), welche es genau sind.  Für Organisationen empfehlen sie daher neben Leitlinien, wie sie in der Medizin üblich sind. Außerdem sollten „Noise Audits“ umgesetzt werden. Darunter verstehen sie die Durchführung von Projektstudien zur Bestandsaufnahme von Noise. Ziel ist es, innerhalb der Organisation das Ausmaß der Nicht-Übereinstimmung bei Fachkräften bei der Bearbeitung derselben Fälle zu analysieren, wie etwa bei Richtern oder Personalern. Denn selbst Experten überprüfen ihre Urteilsfähigkeit nur selten systematisch, gehen aber davon aus, dass ihre Kollegen zu den gleichen Urteilen kommen würden.

Intelligenz allein genügt nicht

Oder hängen gute Entscheidungen nicht auch von der Intelligenz des Entscheiders ab? Das Ergebnis von über hundert Jahren Forschung und Tausenden von Studien, die den Zusammenhang zwischen den Ergebnissen kognitiver Tests und späteren Leistungen untersucht haben, ist schließlich eindeutig. Der Faktor der allgemeinen Intelligenz (GMA = general mental ability) ist in der Lage, den späteren Berufsstatus vorherzusagen ebenso wie das Leistungsniveau innerhalb einer bestimmten Berufstätigkeit. Und zwar besser als alle anderen Merkmale, Fähigkeiten, Dispositionen oder Berufserfahrung.

Die Treffgenauigkeit von Expertenurteilen ist umso höher, wenn die Personen hochintelligent sind. Sie treffen mit höherer Wahrscheinlichkeit gute Urteile, sind aber auch besser in der Lage andere zu beeindrucken und ihr Vertrauen zu gewinnen. Die Autoren kommen so zu der amüsanten Schlussfolgerung, dass Astrologen im Mittelalter zu den intelligentesten Personen ihrer Zeit gehört haben müssten.

Aber Intelligenz alleine reicht nicht aus. Der Denkstil der besten Prognostiker besteht sowohl aus einer hohen GMA, als auch aus dem Denkstil einer aktiven Selbsthinterfragung, der sich durch die Fähigkeit auszeichnet, Überzeugungen und Meinungen im Lichte neuer Informationen zu ändern.

Bei all den genannten Schwächen der menschlichen Urteilsfähigkeit, diskutieren die Autoren auch den Einsatz von Algorithmen. Bei großen Datenmengen sind Algorithmen mit ihrem maschinellen Lernen den Menschen überlegen und zumindest frei von Noise. Algorithmen sind nicht perfekt und machen Fehler, aber wenn Menschen noch fehleranfälliger sind, könnten sie manchmal eine sinnvolle Alternative sein.

Fazit: Noise ist ein Problem, aber seine vollkommene Eliminierung ist weder möglich noch immer notwendig. Abhängig vom Kontext (Gericht, Medizin, Schule, Personalauswahl etc.) sollte eine Reduzierung angestrebt werden, in dem bereits im Vorfeld Entscheidungskriterien festgelegt und konsequent angewendet werden. Wer bessere Entscheidungen treffen möchte, sollte das Buch unbedingt lesen. Ein erhellendes Lesevergnügen mit dem Potenzial zum Bestseller zu avancieren.

Rouven Schäfer, Leiter Human Resources Management, DocCheck in Köln

Daniel Kahneman, Oliver Sibony, Cass, R. Sunstein: Noise – Was unsere Entscheidungen verzerrt und wie wir sie verbessern können. München: Siedler Verlag, 2021, 480 Seiten, 30,00 EUR.

 

 

 

 

 

Head of Human Resources Management, DocCheck AG

Diskutieren Sie mit