Personalauswahl: Die Angst von HR vor dem Intelligenztest  

Pexels Max Fischer

Die Aussagekraft von Intelligenztests zur Vorhersage beruflicher Leistungen ist vielfach bestätigt. Dennoch scheuen sich Personalmanager vor ihrem Einsatz.

Intelligenz ist das Personenmerkmal, das für sich allein genommen in den meisten Auswahlsituationen die sicherste Vorhersagekraft für die Arbeitssleistungzeigt. Das weisen mehrere Studien und Metaanalysen nach.

Bereits 1998 stellen Schmidt und Hunter in einer Metaanalyse für die Personalarbeit die Vorhersagekraft der Intelligenz fest. In weiteren Studien und Publikationen weist das unter anderen auch Frank L. Schmidt (der Schmidt in Schmidt und Hunter) von der Universität Iowa wiederholt nach, zuletzt 2016. Weitere Studien, insbesondere von Salgado und Kollegen, bestätigten dieses Ergebnis wiederholt. Aber es gibt dazu nicht nur amerikanische Befunde. Deutsche Wegweiser sind Ute Hülsheger (mit Günter Maier) und Jochen Kramer, die getrennte Metanalysen mit der gleichen Botschaft veröffentlicht haben. Intelligenz ist damit für die Vorhersage von beruflicher Eignung die große Konstante in der Wissenschaft.

Doch was versteht man eigentlich unter Intelligenz? Intelligenz ist die allgemeine geistige Fähigkeit, Bedeutung wahrzunehmen, Verständnis zu entwickeln, Zusammenhänge zu erkennen und Wissen zu erwerben und anzuwenden. Sie ist somit die Fähigkeit, die Anforderungen der Umgebung und die daraus resultierenden Aufgaben oder Herausforderungen zu erkennen und sich an diese anzupassen. Mit Hilfe der Intelligenz können wir auch Veränderungen erkennen, daraus resultierende Aufgabenstellungen verstehen und dazulernen. Wir können neuartige Herausforderungen bewältigen, für die wir noch keine Lösungen im Handlungsrepertoire haben.

Aufgaben unterscheiden sich in ihrer Komplexität

Und das ist einfach nachzuvollziehen: Berufe und „Jobs“ unterscheiden sich in ihrer Komplexität. Es gibt mehr oder weniger komplexe Aufgabenstellungen, Arbeitsabläufe und berufliche Themen. Und es gibt Menschen, denen manches mehr oder weniger schwerfällt. Einige kommen früher an ihre Grenzen (des Verstehens) als andere. Das ist nicht nur eine Frage des Wollens, der Motivation oder der Haltung, sondern eine Frage der Leichtigkeit im Umgang mit Daten und Zusammenhängen.

Wenn aber die Intelligenz, egal wie man sie nennt, und welchen Teilbereich kognitiver Leistungsfähigkeit man genau anschaut, der stärkste einzelne Prädiktor für berufliche Leistung ist, warum ist die Messung der Intelligenz dann nicht der erste Schritt in jedem Auswahlprozess?

Wenn der Autor Personalmanagern vorschlägt, in der Vorauswahl von Bewerberinnen und Bewerbern erst einmal die Intelligenz zu testen, kommt sehr oft die Frage, ob man den Kandidaten das überhaupt zumuten könne. Dann heißt es, dass die jungen Absolventinnen und Absolventenoch alle einen Studienabschluss haben und das daher gar nicht mehr notwendig wäre. Oder das Coderinnen und Coder so begehrt sind, dass sie sich jeden Job aussuchen könnten und von Tests nur abgeschreckt würden. Oder dass Führungskräfte, besonders für höhere Ebenen, doch schon so viel geleistet hätten, dass sie sicher pikiert seien, wenn man ihnen einen Intelligenztest im Auswahlprozess „zumuten“ würde.

Angst ist ein schlechter Ratgeber

Diese Angst steckt so tief, dass sie oft nicht einmal thematisiert wird, sondern so mancher Personalverantwortliche schon vorbeugend in unsinnige Ausweich- und Übersprunghandlungen verfällt und sich auf die Persönlichkeit fokussiert. Viele haben zwar schon verstanden, dass die Psychologie eine wertvolle Hilfe bei der Personalauswahl sein kann, aber sie möchten lieber nur ein bisschen davon und offenbar nicht die Vorhersagekraft der richtigen Instrumente nutzen. Man könnte das vielleicht „Psy-Washing“ nennen.

Was machen viele Personalverantwortliche also? Sie nutzen einen Persönlichkeitsfragebogen. Und davon gibt es jede Menge. Und ganz unterschiedliche Modelle. Der Markt ist überschwemmt von einer Vielzahl von sogenannten Persönlichkeitstests, von den viele keinen wissenschaftlichen Standards genügen.

Doch selbst wenn es sich um einen sauber konstruierten Persönlichkeitstest handelt, erfasst dieser nicht das Merkmal, das bei der Arbeit besonders relevant ist – nämlich die Intelligenz. Dafür misst er eine Vielzahl von Persönlichkeitsmerkmalen und natürlich ist es verführerisch, so die Persönlichkeit eines Bewerbers tiefer zu ergründen und komplexe Kompetenzmodelle daraus zu stricken.

Aber dabei kann man sich auch schnell verlieren. Denn oft wird auch noch wild durcheinandergewürfelt, was alles unter Persönlichkeit verstanden wird: Haltung, Culture-Fit, Einstellung oder das Lebensmotiv, dass zu Job passen soll.

Und in so manchem Psychologie-Lehrbuch steht schließlich, „…dass wir der Individualität einer Person umso gerechter werden, je mehr Eigenschaften wir betrachten.“ Wie kann man den HR-Verantwortlichen da einen Vorwurf machen, wenn sie jedem einzelnen Bewerber und jeder einzelnen Bewerberin gerecht werden möchten?

Für die Praktikerinnen und Praktiker im Personalmanagement öffnet dieser Satz die Büchse der Pandora. Der Ansatz, sich auf eine Vielzahl von Persönlichkeitsmerkmalen zu stürzen, beschert Unmengen an Informationen, die aber nicht mehr sinnvoll verwertet werden können und nur vom Wesentlichen ablenken. Und er dient auch als Entschuldigung dafür, dass man sich nicht traut, das entscheidende Merkmal zu messen: die Intelligenz.

Weniger ist mehr

Vor diesem eigentlich positiven Hintergrund – Menschen genau kennenlernen zu wollen – haben neben einer Unmenge Persönlichkeitsfragebögen auch immer mehr KI-Lösungen Hochkonjunktur, die behaupten, mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI) Stimmen, Gesichter oder Text analysieren zu können. Doch auch hier fällt die Messung der Intelligenz unter den Tisch, obwohl auch sie ein Persönlichkeitsmerkmal ist.

Wenn also auf einem Test oder Fragebogen mit einem Berufsbezug „Persönlichkeit“ steht, sollte auch die Messung der Intelligenz im Testpaket enthalten sein. Wenn ein Verfahren einen Berufsbezug hat und suggeriert wird, dass das (oder sogar alles), was im Beruf relevant ist, auch berücksichtigt wird, darf die Intelligenz nicht fehlen.

Dazu kommt, dass die Intelligenz eine Reihe anderer Persönlichkeitsmerkmale direkt beeinflusst. Man könnte sagen, dass Intelligenz diese mit einem Faktor „auflädt“, der über den Wirkungsgrad dieser Merkmale entscheidet.

Intelligenz ist Teil der Persönlichkeit

Intelligenz ist die Grundkonstante der beruflichen Leistungsfähigkeit. In ihr drücken sich die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung und die Kapazität der Lernfähigkeit aus. Deshalb kann Intelligenz auch helfen, andere Persönlichkeitseigenschaften zu „trimmen“ oder zu kompensieren. Wer etwa keinerlei Empathie besitzt, kann beispielsweise mit Hilfe seiner Intelligenz die sozialen Wirkungen seines Handelns beobachten, kognitiv verarbeiten und sich Regeln zurechtlegen, z.B.: „Keine Horrorgeschichten, wenn Kinder am Tisch sitzen.“

Eine fundierte Einschätzung von Menschen im Berufsleben und ihrem Leistungspotenzial muss also immer auf der Intelligenz aufbauen. Natürlich muss sie sich auch mit Werten, Zielen, Motiven und Temperamenten befassen. Berufsbezogene Persönlichkeitsfragebögen kann man daher durchaus als Ergänzung einsetzen, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass sie immer nur Teilaspekte abbilden

Dabei sollte man sich aber auch immer vor Augen halten: Persönlichkeitsfragebögen sind eine Sammlung von Fragen und das Ergebnis sind Selbstauskünfte. Wer nur nach Persönlichkeitsmerkmalen fragt, ohne die Intelligenz zu messen, der kratzt nicht nur an der Oberfläche, sondern sucht insgesamt an der falschen Stelle.

Selbst augenscheinlich sinnvolle Dimensionen in berufsbezogenen Persönlichkeitsfragebogen, wie z. B. „Teamfähigkeit“ bleiben ohne ein kognitives Maß völlig inhaltsleer. Teamfähig kann nämlich völlig unterschiedliche Bedeutungen haben, je nachdem mit welcher Intelligenz sie kombiniert ist. Stellen sie sich zwei Teammitglieder vor:

Eine Person bringt nie auch nur ansatzweise einen sachlichen Beitrag zur Lösung, ist aber zu allen freundlich, nickt zustimmend zu Sätzen, die einflussreiche Teammitglieder mit hohem Status sagen oder versucht sogar sie zu wiederholen. Sie besorgt immer gern Kaffee, Obst oder andere Goodies und ist die gute Seele einer Gruppe.

Eine andere Person bearbeitet Lösungen, bringt Inhalte und Themen voran, teilt gern ihre Ergebnisse und engagiert sich sachlich enorm im Sinne gemeinsamer Ziele der Gruppe. Sie wird nicht müde, für die gemeinsame Sache Lösungen zu erarbeiten und holt jeden gern mit den unterschiedlichen Perspektiven ab und engagiert sich für die bessere Lösung. Dabei geht sie auch so weit, dass sie Führungskräften widerspricht, wenn sie überzeugt ist, dass diese falsch liegen.

Für beide Personen gibt es geeignete Aufgaben, aber beide sind grundverschieden, auch wenn sie vielleicht in der Dimension „Teamfähigkeit“ sehr ähnliche Ergebnisse zeigen.

Von Paul Watzlawick gibt es das wunderbare Beispiel des nächtlichen Zechbruders, der sein Auto im Dunkeln abgestellt hat und an der Autotür den Schlüssel fallen lässt. Weil er dort aber nichts sehen kann und er auch nicht unter das Auto kriechen möchte, sucht er seinen Schlüssel fünf Meter weiter, wo die Laterne steht und er etwas sehen kann. Auf die Frage eines Passanten, ob er den Schlüssel denn auch hier verloren hat, antwortet er: Nein, aber hier sehe ich etwas.

Weitere Literatur

Hülsheger, U.R. & Maier, G.W. (2008). Persönlichkeitseigenschaften, Intelligenz und Erfolg im BerufEine Bestandsaufnahme internationaler und nationaler Forschung. Psychologische Rundschau, 59(2), 108-122.

Kramer, J. (2009). Allgemeine Intelligenz und beruflicher Erfolg in Deutschland. Vertiefende und weiterführende Metaanalysen. Psychologische Rundschau, 60(2), 82-98.

Schmidt, F. L., & Hunter, J. E. (1998). The validity and utility of selection methods in personnel psychology: Practical and theoretical implications of 85 years of research findings. Psychological Bulletin, 124, pp. 262-274.

Schmidt, F. (2016). The Validity and Utility of Selection Methods in Personnel Psychology: Practical and Theoretical Implications of 100 Years of Research Findings. Working Paper on Research Gate: www.researchgate.net/publication/309203898, abgerufen am 1.5.2021. Auf Deutsch zusammengefasst mit der Übersetzung der Originalversion ins Deutsche von Drs. Annika van Veen: https://eignungsdiagnostik.info.

Salgado, J. F., Anderson, N., Moscosos, S., Bertua, C., De Fruyt, F., & Rolland, J. (2003). A meta-analytic study of general mental ability validity for different occupations in the European community. Journal of Applied Psychology, 88, 1068–1082.

Harald Ackerschott ist Diplom-Psychologe, Geschäftsführer der Harald Ackerschott GmbH in Sankt Augustin. Er ist Mit-Initiator und Mit-Autor der DIN 33430 und Gründungsmitglied der Recruitingrebels

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