Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz greifbar machen  

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Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt seit Jahren. Umso wichtiger ist es, dass sich Unternehmen die Einflussfaktoren für die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz genauer ansehen. Das Startup improveMID bietet dazu einen einfachen und innovativen Ansatz.

Psychische Erkrankungen nehmen zu, das ist Fakt (Suhr, 2019). Krankenkassen, behandelnden Psychologinnen und Psychologen und vielen anderen Menschen ist diese Entwicklung mehr als bewusst. Und wohl fast jeder kennt mindestens eine Person in seinem Bekanntenkreis, die mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, seien es Depressionen, Angststörungen, Phobien oder ein Burnout.

Psychische Erkrankungen haben viele Ursachen, wie Genetik, traumatisierende Erlebnisse, Sozialisierung und Umwelteinflüsse. Auf die meisten Dinge hat man keinen Einfluss. Sie passieren einfach und die Herausforderung besteht darin, damit klarzukommen – eine eher ernüchternde Erkenntnis. Aber es gibt auch gute Nachrichten: Es gibt einen Ort, an dem besonders viele Einflüsse auf die Psyche einwirken und der beeinflusst werden kann – der Arbeitsplatz. Ständiger Zeitdruck, von einem Online-Meeting zum nächsten hetzen, fehlende Pausen und das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen sind nur ein paar Beispiele, die vielen bekannt vorkommen.

Da dies Belastungen sind, die vom Arbeitgeber verbessert werden können, ist es wichtig, dass Unternehmen hier Verantwortung übernehmen. In erster Linie aus Menschlichkeit, in zweiter Linie aus Wirtschaftlichkeit. Denn die Folgen von psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz sind häufig fehlende Motivation und dementsprechend eine sinkende Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden bis hin zu Arbeitsausfällen. Und die dauern im Schnitt dreimal so lange wie Ausfälle aufgrund anderer Erkrankungen und sie nehmen immer weiter zu (Bundesgesundheitsministerium, 2019). Zudem gilt seit 2013 ein Gesetz, das Unternehmen vorschreibt, eine sogenannte Psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen (ArbSchG §5 und §6). Dabei müssen sie Belastungen am Arbeitsplatz identifizieren und Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit ableiten und umsetzen.

Durchgeführt kann diese Gefährdungsbeurteilung in verschiedenen Formen. Es gibt zum einen die Möglichkeit einer Arbeitsplatzbegehung, bei der objektiv von außen der auf belastende Einflüsse überprüft wird. Diese Methode kann von den Verantwortlichen in Unternehmen, meist aus den Bereichen HR oder Arbeitssicherheit, durchgeführt werden. Eine weitere Möglichkeit ist die subjektive Befragung von Mitarbeitenden durch Mitarbeitergesprächen. Dies ist eine präzise Erhebungsmethode, bei der jede und jeder zu Wort kommt. Allerdings können die Erkenntnisse verzerrt werden, wenn Mitarbeitende sich nicht trauen offen zu sprechen – psychische Gesundheit am Arbeitsplatz ist leider weiterhin ein vorurteilsbehaftetes Thema. Daher bietet eine anonyme Mitarbeiterbefragung mittels Fragebogen eine ideale Alternative, dazu später mehr.

Unabhängig von der Erhebungsmethode sollten nach der Erhebung anhand der Ergebnisse kritische Einflussfaktoren am Arbeitsplatz identifiziert und Maßnahmen zur Reduktion der Belastungen eingeführt werden. Nach erfolgreicher Maßnahmenumsetzung ist eine Erfolgskontrolle notwendig. Apropos Kontrolle: Da die Durchführung einer Psychischen Gefährdungsbeurteilung gesetzlich verpflichtend ist, wird diese von verschiedenen Instanzen, wie dem Gewerbeaufsichtsamt, der Berufsgenossenschaft, der jeweiligen Krankenversicherung, dem Inspektionsdienst Arbeitsschutz oder der Rentenversicherung kontrolliert. Daher sollte eine schriftliche Dokumentation der Durchführung vorliegen, ansonsten führt dies zu einer Geldstrafe.

Dass der Blick auf die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden wichtig ist, ist also unumstritten. Doch warum haben dennoch viele Unternehmen die Dringlichkeit des Themas nicht auf dem Schirm? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Erstens ist das Thema psychische Erkrankungen leider immer noch mit Stigmatisierung und Vorurteilen behaftet, weshalb viele Arbeitgeber gern die Augen davor verschließen. Zweitens ist die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz etwas sehr Abstraktes und es stellt sich schnell die Frage: Wie soll ich denn diese Belastungen erfassen und positiv beeinflussen? Es geht also weniger um das Warum als um das Wie.

Wie lassen sich Belastungen messen?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um Belastungen, die auf Mitarbeitende einwirken, sichtbar zu machen. Wie bereits erwähnt, kann man eine Begehung des Arbeitsplatzes machen, Einzelgespräche führen oder eine Befragung durchführen. Gerade Letzteres ist eine beliebte Methode – und aus gutem Grund. Denn was aus der Literatur eindeutig hervorgeht ist, dass das subjektive Empfinden zur Beurteilung einer psychischen Belastung entscheidend ist (Lazarus & Folkman, 1984). Dabei wird zwischen psychischer Belastung und psychischer Beanspruchung unterschieden (Kauffeld, 2019). Unter psychischen Belastungen versteht man die erfassbaren Einflüsse aus der Arbeitsumgebung, die auf die Mitarbeitenden einwirken. Diese können objektiv erfasst werden, wie es beispielweise bei einer Arbeitsplatzbegehung gemacht wird. Wichtig ist allerdings, wie sich diese Belastungen letztlich auf die Mitarbeitenden auswirken. Und diese subjektiven Auswirkungen werden als psychische Beanspruchungen bezeichnet und können nur durch ein Befragen der Betroffenen erfasst werden.

Eine innovative Methode bietet das Mental Health Startup improveMID. Unternehmen befragen ihre Mitarbeitenden online, was sie besonders belastet. Eine Software wertet die Ergebnisse anonym aus und liefert einen Überblick darüber, wie es den Mitarbeitenden geht, was sie am meisten belastet und welche Maßnahmen zur Stärkung der psychischen Gesundheit sinnvoll sind – und das automatisiert und anonymisiert.

Grundlage des Systems ist der wissenschaftlich fundierte Fragebogen von improveMID, welcher in einer Masterarbeit entwickelt und getestet wurde und aktuell in einer großen Studie weiter validiert wird. Da es verschiedene Theorien dazu gibt, wie genau die Umgebungseinflüsse am Arbeitsplatz auf die Menschen einwirken, wurden für den Aufbau des Fragebogens vier wissenschaftliche Modelle berücksichtigt: das Person Environment Fit-Modell (Edwards et al, 1998), das Job Demand Control (Support)-Modell (Karasek & Theorell, 1990), das Job Characteristics-Modell (Hackman & Oldham, 1974) und das Job Demand Resources-Modell (Bakker & Demerouti, 2007). Dadurch werden nur solche Arbeitsfaktoren abgefragt, welche einen wissenschaftlich bestätigten Einfluss auf die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz haben – sowohl positiven als auch negativen. So werden in dem Fragebogen die Bereiche Arbeitsorganisation, Arbeitsinhalt, soziales Miteinander und physische Umgebung abgedeckt. Zusätzlich gibt es noch Module zu Home Office und Corona.

Die Besonderheit des Fragebogens liegt in der Kürze und Effizienz (ca. 10 bis 15 Minuten). Denn gerade die Mitarbeitenden, die besonders gestresst sind und wenig Zeit haben, sollen damit erreicht werden. Die Effizienz entsteht durch das Fragebogensystem, durch das sowohl die oben erwähnten psychischen Belastungen als auch die subjektiven Beanspruchungen erfasst werden sowie eine inkludierte Ursachenabfrage.

Doch leider reicht es nicht, die Daten zu haben, sondern diese müssen auch sinnvoll ausgewertet und analysiert werden. Mittels komplexer statistischer Modelle wird durch die Software von improveMID nicht nur aufgezeigt, welches die Hauptbelastungen am Arbeitsplatz sind, sondern es wird auch deutlich, welche Belastungen den größten Einfluss haben – auf die psychische Gesundheit, aber auch auf die Mitarbeiterbindung, die Motivation und die Leistung.

Screenshot: Ergebnisse der Online-Befragung

 

Ein Beispiel: Ein Arbeitsplatz, an dem ständig laut telefoniert wird, kann zwar belastend sein, der hohe Lautstärkepegel muss jedoch keinen tatsächlichen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben. Wohingegen ein häufiges Multitasking mit vielen Unterbrechungen eine große psychische Beanspruchung auslösen kann. Welche Arbeitseinflüsse die entscheidenden sind, ist von Mitarbeitendem zu Mitarbeitendem und von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich, weshalb es auch bei den Maßnahmen keine allgemeingültigen Empfehlungen gibt. Aber je mehr man aus den Daten einer Mitarbeiterbefragung herauszieht, desto konkreter können die passenden Handlungsoptionen für die Unternehmen abgeleitet werden. Die Maßnahmenempfehlung basiert auf der Kombination aus den vorliegenden Belastungen und Ressourcen im Unternehmen und wird durch Algorithmen ermittelt. Zeigen die Daten beispielsweise, dass viele Mitarbeitenden darunter leiden ihre Arbeit gedanklich mit in den Feierabend zu nehmen, so wird ein Training empfohlen, um das Abschalten (sogenanntes Detachment) zu erlernen. Liegt eine Hauptbelastung darin, dass Mitarbeitende am Arbeitsplatz keinen Rückzugsort haben, so kann eine physische Veränderung wie die Schaffung eines Pausenraums mit Wohlfühl-Atmosphäre die Empfehlung sein.

Die Resonanz der Kunden, die den Prozess von der Mitarbeiterbefragung bis zu Maßnahmenableitung durchlaufen haben, war durchwegs positiv. Geschätzt wird insbesondere das Greifbarmachen von psychischer Gesundheit und zwar ohne interne Ressourcen binden zu müssen. Der Aufwand für die Mitarbeitenden beschränkt sich auf wenige Minuten und auch der Aufwand für die Verantwortlichen im Unternehmen ist gering, da improveMID neben der Durchführung beispielsweise auch die Kommunikation an die Führungskräfte und Mitarbeitenden übernimmt.

Psychische Gesundheit ist der entscheidende Schlüssel für zufriedene Mitarbeitende und den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg. improveMID ermöglicht es, dass jedes Unternehmen Verantwortung für seine Mitarbeitenden übernehmen kann – ohne großen organisatorischen und finanziellen Aufwand.

Weitere Literatur

Bakker, A. B. & Demerouti, E. (2007). The Job Demands-Resources model: State of the art. Journal of Managerial Psychology, 22(3), 309–328.

Bundesgesundheitsministerium (2019). Arbeitsunfähigkeit: Fälle und Tage nach Diagnosen 2019.

Edwards, J. R., Caplan, R. D. & Harrison, R. V. (1998). Person-environment fit theory: Conceptual foundations, empirical evidence, and directions for future research. In Theories of organizational stress (S. 28–67). Oxford: Oxford University Press.

Hackman, J. R., & Oldham, G. R. (1974). The Job Diagnostic Survey: An instrument for the Diagnosis of Jobs an the Evaluation of Job Redesign projects. Department of Administrative Sciences, Yale University.

Karasek, R. A. & Theorell, T. (1990). Healthy work. Stress, Productivity and the Reconstruction of  Working Life. New York: Basic Books.

Kauffeld, S. (Hrsg.). (2019). Arbeits-, Organisations- und Personalpsychologie für Bachelor. Berlin: Springer Berlin Heidelberg.

Lazarus, R. S. & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. Springer.

Suhr, F. (Statista, Hrsg.). (2019). Psychische Erkrankungen im Job nehmen zu. Verfügbar unter: https://de.statista.com/infografik/17797/die-haeufigsten-gruende-fuer-berufsunfaehigkeit/

Ina Haug, Bachelor of Science in Psychologie, Master of Science in Wirtschaftspsychologie, Mit-Gründerin und Gesellschafterin von improveMID in Stuttgart. Foto: Campus Founders

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