„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, sagte einst der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Stimmt nicht unbedingt, erklärt die Münchner Diplom-Psychologin Madeleine Leitner. Manchmal steckt dahinter auch eine ausgeprägte Vorstellungskraft und damit eine seltene Fähigkeit, die nur den wenigsten bewusst ist.
„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“
Helmut Schmidt
Wer kennt sie nicht? Menschen, die wir schnell als Spinner abkanzeln. Sie warnen ständig vor allen möglichen Risiken, die wir für völlig überzogen oder unrealistisch halten. Sie werfen uns immer wieder vor, dass wir sehenden Auges gegen eine Wand rennen. „Ich habe zahlreiche Klienten, die dabei immer wieder in darum der Rolle des tragischen Hiob befinden“, so Madeleine Leitner. „Von ihren Kollegen und Vorgesetzten werden sie als chronische Bedenkenträger verspottet und geraten so in eine Außenseiterposition.“ Dabei verfügten sie über eine ganz besondere Gabe.
Wie die Karriereberaterin immer wieder feststellte, haben diese Menschen auffallend häufig ein besonders ausgeprägtes Vorstellungsvermögen. Stehen sie vor einer Aufgabe, laufen vor ihrem inneren Auge filmartige Szenarien ab, wie sich Situationen weiter entwickeln werden. Bei diesen virtuellen Zeitreisen in die Zukunft erkennen sie daher auch alles, was schiefgehen kann. Darum unterlassen sie viele Dinge bewusst und umschiffen so all die Risiken, die andere ungefiltert eingehen. Dass bei ihnen allerdings nur deshalb alles glatt läuft, weil sie diese Gabe besitzen, ist ihnen selbst nicht bewusst: Sie gehen vielmehr davon aus, dass jeder diese Fähigkeit besitzt und dass sie daher nichts Besonderes tun.
Insbesondere in der Zusammenarbeit mit ihren nichtsahnenden Mitmenschen kommt es dann zu typischen Konflikten. Madeleine Leitner: „Bildhaft gesprochen sehen Menschen dank ihrer Vorstellungskraft, wie andere offenen Auges auf den Abgrund zulaufen. Sie können sich nicht im Ansatz vorstellen, dass andere ihn nicht sehen. So verzweifeln sie ständig an der Kurzsichtigkeit ihrer Kollegen und Chefs, diese umgekehrt an deren scheinbar absurden Einwänden und Ideen. Erst mit großem Abstand erweist sich, dass die Einwände aber mehr als berechtigt waren.“
Visionäre sind Strategen, Querdenker und Erfinder
Wenn die „Visionäre“ jedoch verstanden haben, dass sie eine Gabe haben, über die andere nicht verfügen, können sie ihr Potenzial auch entsprechend nutzen. Ihre Fähigkeit, Bilder vor dem inneren geistigen Auge zu entwickeln, prädestiniert diese Menschen nämlich für bestimmte Aufgaben. Sie sind die geborenen Strategen, deren Pläne auch aufgehen und bei denen nichts schiefgeht.
Gleichzeitig sind sie aber auch die geborenen Querdenker und Erfinder. Durch ihr Vorstellungsvermögen können sie sich von Konventionen lösen und ganz neue Lösungsansätze entwickeln, auf die andere nie gekommen wären. Der deutsche Naturwissenschaftler August Kekulé etwa entschlüsselte die chemische Struktur von Benzol als Ringstruktur in einem Traum, in dem sich eine Schlange in den eigenen Schwanz biss. Und auch Albert Einstein schätzte bei seiner wissenschaftlichen Forschung Phantasie sogar wichtiger ein als Wissen.
Als modernes Beispiel für einen Visionär gilt der verstorbene Apple-Chef Steve Jobs. Er erdachte völlig neuartige Ansätze wie die „Wisch-Funktion“. Während andere Handy-Hersteller noch auf die Entwicklung immer kleinerer Mobiltelefone setzten, arbeitete er an Smartphones und Tablets und erntete anfangs dafür sogar noch Spott.
Sind Sie ein Visionär?
Wie kann man nun herausfinden, ob man eine besondere Fähigkeit zur Imagination hat? Der erste Schritt besteht darin, dass sich die Betroffenen ihre Gabe selbst bewusst machen. Dabei bieten folgende Fragen einen ersten Ansatzpunkt:
- Können Sie sich im Kopf vorstellen, wie ein bestimmtes Möbelstück in einem anderen Raum aussieht?
- Haben Sie beim Kofferpacken immer das Richtige dabei?
- Klappt bei Ihnen immer alles wie am Schnürchen?
- Stoßen Sie mit Ihren Ideen häufiger auf Unverständnis, behalten im Nachhinein mit Ihren Prophezeiungen aber fast immer Recht?
- Ärgern Sie sich oft über die Dummheit Ihrer Mitmenschen, die nicht weiterdenken als bis zu ihrer Nasenspitze?
Wer diese Fragen zustimmend beantworten kann, zählt womöglich zu den geborenen Visionären und Strategen. „Dann“, so rät Madeleine Leitner, „sollten Sie Ihr Talent noch bewusster einsetzen.“ Konflikte lassen entschärfen, indem man seine Gabe seinen Mitmenschen erklärt und Beispiele bringt, bei denen man mit seinen Prophezeiungen entgegen allen Unkenrufen letztlich Recht hatte. „Indem Sie so quasi eine Gebrauchsanweisung für sich selbst geben, erfahren Sie mehr Verständnis in Ihrem privaten und beruflichen Umfeld, was Ihnen völlig neue Möglichkeiten eröffnen kann“, weiß Leitner.
Madeleine Leitner ist Diplom-Psychologin und berät Menschen in beruflichen Umbruchsituationen.