Im Juli ist die Testrezension der Sprachanalyse Precire JobFit beim Testkuratorium erschienen und sie ist vernichtend. Erwartet worden war sie bereits Anfang 2018. Dann zog es sich hin und schließlich hieß es, die Rezensenten hätten ihre Bewertung zurückgezogen.
Das Diagnostik- und Testkuratorium (DTK) ist ein vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. und von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. getragenes Gremium, das es als seine Aufgabe sieht, die Öffentlichkeit vor unzureichenden diagnostischen Verfahren zu schützen.
Precire soll anhand der Sprachprobe eines 15-minütigen Telefoninterviews berufsrelevante Merkmale automatisiert erfassen. Dazu gehören konkrete sprachliche Merkmale, Persönlichkeitseigenschaften und verschiedene Skills. Zudem solle das Verfahren die Passung einer Bewerberin bzw. eines Bewerbers für eine Stelle auf Grundlage einer Anforderungsanalyse feststellen, heißt es in der Rezension.
„Bei Precire handelt es sich um ein ungewöhnliches Testverfahren, das aus dem Potenzial von Methoden des maschinellen Lernens schöpft. Unverständlich ist, dass keine Testautorinnen und -autoren genannt werden, die mit ihrem Namen für die Qualität bürgen; ungewöhnlich ist die schlechte Dokumentation des methodischen Vorgehens.
Das Verhältnis von untersuchten Personen (N= 5.201) zu analysierten Variablen (564.367Features) bei der Erstellung eines Vorhersagemodells für psychologische Merkmale ist sehr ungünstig. Es ist nahezu unvermeidbar, dass dabei zufällig im Datensatz vorhandene Konstellationen von Features ausgebeutet werden…. Vor allem fehlt ein Nachweis, dass das Verfahren eine inkrementelle Validität gegenüber den Persönlichkeitsfragebogen aufweist, anhand derer es entwickelt wurde“, heißt es in der Bewertung.
Mit anderen Worten: Es ist unklar, ob Precire besser ist als herkömmliche Fragebögen. Insgesamt sei die psychometrische Qualität des Verfahrens nicht hinreichend belegt. Zudem werfe es ethische und rechtliche Fragen auf.
Erst im Juni erhielt Precire mit dem BigBrotherAward eine wenig schmeichelhafte Auszeichnung für seine „wissenschaftlich zweifelhafte, wahrscheinlich rechtswidrige und gefährliche Sprachanalyse“. Die BigBrotherAwards prämieren Datensünder in Wirtschaft und Politik und werden in 19 Ländern vergeben, in Deutschland werden von dem gemeinnützigen Verein „Digitalcourage“ organisiert.
„Emotions- und Motivationserkennung per Sprachanalyse ist gefährlich, denn sie kann ohne unser Wissen irgendwo im Hintergrund passieren, wann immer wir sprechen“, kritisierte die Datenschutzaktivistin Rena Tangens in ihrer Laudatio. „Diese Art der Sprachanalyse ist geradezu darauf angelegt, uns zu übervorteilen. So werden die einzelnen Menschen immer ohnmächtiger und unangreifbare Macht wandert immer mehr zu großen Konzernen, Versicherungen, Banken und staatlichen Stellen, die Zugriff auf unsere Daten und solche Technologie haben.“
Precire wird angeblich bereits in mehr als hundert Unternehmen eingesetzt, etwa bei der Bewerberauswahl oder Personalentwicklung beim Zeitarbeitsvermittler Randstad, dem Versicherungskonzern Talanx und dem Flughafenbetreiber Fraport. In Callcentern soll die Software angeblich herausfinden, ob ein Anrufer verärgert ist, bei der Meldung eines Versicherungsschadens lügt oder in der richtigen Stimmung ist, um ihm ein interessantes Angebot machen zu können.
Einer der eifrigsten Promoter von Precire ist Thomas Belker, bis Ende April Personalvorstand beim Precire-Kunden Talanx und Vizepräsident des Bundesverbandes der Personalmanager (BPM). Dabei war lange nicht bekannt, dass die Versicherung an dem Start-up Precire beteiligt ist.
Seit dem 1. Mai 2019 ist Belker Geschäftsführer von Precire und weiterhin Mitglied des vom BPM initiierten „Ethikbeirat HR Tech“, der sich für den verantwortungsvollen praxisorientierten Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) im HR-Management engagiert.
Bärbel Schwertfeger ist Diplom-Psychologin, seit 1985 freie Journalistin und Chefredakteurin von WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE HEUTE.