Organisationen sind darauf angewiesen, schnell und angemessen auf Veränderungen reagieren zu können. Das kann aber nur gelingen, wenn sie in Resonanz treten und die Erzählungen und die verborgenen Regeln kennen, die das Verhalten der Mitarbeitenden mitbestimmen.
Wenn die Corona-Krise bisher eines gezeigt hat, dann die Tatsache, dass vor allem zwei Typen von Unternehmen in solch besonderen Situationen überlebens- und damit zukunftsfähig sind: Einerseits große Unternehmen mit gut gefüllten Schatztruhen, andererseits Firmen, die sehr schnell auf veränderte Bedingungen reagieren und ihre Geschäftsmodelle, Produkte, Dienstleistungen und Prozesse neu aufsetzen können – meist kleine oder mittlere Unternehmen, deren Hierarchien und Prozesse (noch) nicht so komplex sind, dass sie schwer veränderlich erscheinen.
Die Wirtschafts- und Tagespresse war während der ersten Monate der Corona-Krise voll von Geschichten über diese Unternehmen, über Textilunternehmen, die Mundschutz-Masken nähen, Caterer, die Lieferdienste anbieten, oder Maschinenbauer, die auf die Produktion von Beatmungsgeräten umstellen. Es sieht so aus, als ob agilen, flexiblen und selbst-bewussten Organisationen, die fähig sind, spontan auf Veränderung der Umwelt, der Gesellschaft, des Marktes reagieren zu können, die Zukunft gehöre.
Entscheidend für diese Fähigkeit scheinen zwei Faktoren zu sein: Einerseits, dass den einzelnen Mitarbeitenden und den Teams die Autonomie für ihre Entscheidungen und ihr Handeln zurückgegeben wird, andererseits dass offene Prozesse und schnelles Reagieren auf Veränderungen wichtiger genommen werden als das Festhalten an Plänen und starren Strukturen und Hierarchien.
Tatsächliche und scheinbare Agilität
Die Philosophie der Agilität verspricht einen Ausweg aus dem Dilemma der Starrheit: wenig Strukturen und Hierarchien, selbstständiges Handeln der Mitarbeitenden, schnelle und spontane Reaktion auf Veränderungen. Doch in vielen Unternehmen wird diese Agilität häufig im alten Geist des „Maschinenunternehmens“ gedacht: Man führt eine Methode wie „Scrum“ ein und denkt, wenn man alle in ihr vorgesehenen Prozesse durchführe, sei man schon agil. Nach einiger Zeit stellt man dann fest, dass man nur eine Prozessdefinition durch eine andere ersetzt oder gar die Prozesse und Strukturen verdoppelt und die Arbeit der Einzelnen eher erschwert und verkompliziert hat.
Eine wirklich agile Organisation entsteht nur, wenn sie sich auch mit den verborgenen Bereichen der eigenen Kultur auseinandersetzt. Das bedeutet, die Geschichten zu kennen, die im Unternehmen kursieren, und mit ihnen die verborgenen Regeln, die keiner kennt, die aber äußerst wirkmächtig sind. Und es bedeutet auch, die Geschichten zu kennen, die andere (Kunden, Partner, Multiplikatoren etc.) über das Unternehmen und seine Produkte erzählen.
Die narrative Perspektive als Evolution der Organisationstheorie
Die narrative Perspektive ist eine logische Folge jener Entwicklungen in der Management- und Organisationstheorie der letzten 30 Jahre, die auf systemisch-konstruktivistischen Ansätzen beruhen. Bekannt und auch partiell bei Managern und Führungskräften popularisiert wurden diese Entwicklungen durch Peter Senges Buch „Die fünfte Disziplin“ in den späten 1990er Jahren (Senge, 2006). In seinem 2013 erschienenen Buch „Humble Inquiry: The Gentle Art of Asking Instead of Telling“ beschreibt der Organisationspsychologe Edgar Schein, wie gleichberechtigte und respektvolle Kommunikation eine Organisation „gesund“ hält, womit er die Fähigkeit meint, innovativ und flexibel auf Veränderungen in der Umwelt reagieren zu können. Anstatt Mitarbeitenden zu sagen, was sie zu tun haben, sollten Führungskräfte in erster Linie Fragen stellen – Fragen, auf die sie die Antworten noch nicht kennen.
Von diesem Ansatz ist es nur noch ein Schritt zur narrativen Perspektive. Die narrative Haltung interessiert sich für die Geschichten und Erzählungen hinter den Fakten: Geschichten darüber, in welchem Zusammenhang Entscheidungen getroffen, Wissen erworben, Projekte ins Leben gerufen wurden. Welche Erlebnisse haben die Mitarbeitenden gemacht, die die geltenden Erfahrungswelten bestimmen? Welche Geschichten erzählen sie untereinander? Welche Grundannahmen werden in diesen Geschichten sichtbar?
Narrative Methodenfelder
Wenn über Narrativität in Unternehmen gesprochen wird, fällt meist sogleich der Begriff „Storytelling“, der in den letzten Jahren vor allem im Marketing Karriere gemacht hat. Narrative Ansätze und Methoden in der Organisationsentwicklung gehen jedoch weit darüber hinaus; Storytelling, also der intentionale Einsatz von Geschichten, ist nur ein kleiner Teil davon. Die wesentlichen narrativen Methodenfelder sind:
- Storylistening bezeichnet all jene narrativen Metho…
Magister und Promotion in Germanistik, Professor für Medienanalyse und Medienkonzeption an der Hochschule der Medien Stuttgart und Leiter des Instituts für Angewandte Narrationsforschung (IANA).
Diplom-Psychologin, Geschäftsführerin bei NARRATA Consult in Burscheid, gemeinsam mit Professor Leiterin der Zertifikatslehrgänge zu Narrativer Arbeit an der Hochschule der Medien Stuttgart