Gute Führung in der Krise: Einen Schritt zurücktreten

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Zur Führungspersönlichkeit wird man durch die aktive Auseinandersetzung mit Erfahrungen. Die Entwicklungspsychologie spricht von unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Selbst.

Mit der COVID-19-Krise haben wir neue Erfahrungen gesammelt. Sie forderte einen Einschnitt und Veränderungsleistung in vielen Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens. Zusammen mit dem Krieg in der Ukraine und einer immer mehr ins öffentliche Bewusstsein tretenden Klimakrise entsteht der Eindruck eines längeren Krisenmodus, der uns allen viel abverlangen wird. Eines scheint sicher: Führung wird noch komplexer und damit anspruchsvoller.

Mit dem Leipziger Führungsmodell (LFM) wird ein Verständnis darüber vermittelt, was gute Führung bedeuten soll und inwiefern sich diese an unterschiedlichen Wertbeiträgen messen lassen muss. Es wurde im Anschluss an einen Krisenmodus (die Finanzkrise) entwickelt und als Orientierungsrahmen formuliert. Den Ausgangspunkt bilden Grand Challenges – also jene komplexen Probleme, die weder eine einfache bzw. bekannte Lösung haben noch von wenigen allein gelöst werden können. Fehl am Platz sind Machbarkeitsvorstellungen, die den „richtigen“ Weg zu kennen glauben.

Das Leipziger Führungsmodell (in seiner erweiterten Fassung: Meynhardt, T. et al.) besteht aus den vier Modelldimensionen „Purpose“, „Unternehmergeist“, „Verantwortung“ und „Effektivität“ (Abbildung 1). Sie bilden sozusagen den Rahmen, der Führungskräfte unterstützen soll, relevante Fragen zu stellen und ihre Aufmerksamkeit zu lenken. In der Fokussierung auf fundamentale Kerndimensionen und deren Beziehungsgeflecht entsteht so eine Perspektive auf Führung, die in der Praxis immer wieder anzutreffende und in der wissenschaftlichen Debatte reflektierte Fragestellungen in einem heuristischen Modell bündelt. Als solches möchte das Modell Orientierungswissen statt Rezeptwissen vermitteln und stellt auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene vier Führungsfragen, die im Zusammenhang betrachtet werden:

  • Verfolgen wir ein übergeordnetes Ziel? (Purpose)
  • Denken und handeln wir unternehmerisch? (Unternehmergeist)
  • Ist unser Handeln legitim? (Verantwortung)
  • Sind wir effektiv? (Effektivität)

Gute Führung beginnt mit der Bereitschaft, sich immer wieder selbst zu hinterfragen und eigene innere Widersprüche als Quelle für Veränderung und Neues zu erkennen. Doch was bedeutet das für den eigenen Weg zur Führungspersönlichkeit? Ist es allein eine Frage von Willen und Durchsetzungskraft? Äußere Erfolge sind nicht unbedingt gleichzusetzen mit innerer Entwicklung. Es sind die Umstände, unter denen ein Mensch zur Führungspersönlichkeit wächst und reift – Krisenerfahrungen sind dabei unvermeidlich.

Zunächst: Wer sich in einer Krise befindet und deren Ende nicht kennt, wird kaum fröhlich mit Winston Churchill sagen: „Never let a good crisis go to waste.“ An der COVID-19-Krise, wie überhaupt an allen echten Krisen, kann man gut sehen, wie schnell Kontrollüberzeugungen – wie alles im Griff haben, den Überblick behalten, immer eine Antwort parat haben usw. – auf den Prüfstand gestellt werden können. Insofern sind Krisensituationen Bewährungsproben für das eigene Welt- und Selbstbild. Da wo ein Mensch an eigene Grenzen kommt (die Komfortzone verlässt) und für sich Grenzerfahrungen macht, kann aber auch Neues entstehen. Nicht allen gelingt das gleich gut.

Dazu gibt es einen entwicklungspsychologischen Denkrahmen, der das eigene Bemühen um individuelle Krisenbewältigung als permanente Aufgabe begreift, Erfahrungen neu zu bewerten und die Bedeutung von Ereignissen sinnhaft einzuordnen. Denn: Zur Führungspersönlichkeit heranzureifen geschieht in der aktiven Auseinandersetzung mit Erfahrungen.

Die …

Professor Dr. Timo Meynhardt, Diplom-Psychologe und Inhaber des Dr. Arend Oetker Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig Graduate School of Management.

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