Die neue DIN SPEC 91426 beschreibt erstmals Qualitätsanforderungen an videobasierte Methoden der Personalauswahl. Der Psychologe und DIN-Experte Harald Ackerschott erklärt, um was es dabei geht.
Die Corona-Pandemie zwingt Unternehmen verstärkt dazu, ihre Auswahlgespräche per Video durchzuführen. Unterstützung dabei bieten zahlreiche Anbieter von videobasieren Recruiting-Systemen. Ein Anbieter behauptet dabei sogar, mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz – also KI – anhand bestimmter Mikroexpressionen im Gesicht, auf die Eignung eines Bewerbers schließen zu können. Das klingt nicht gerade seriös. Nun verspricht eine neue DIN Spec 91426 einheitliche Qualitätsrichtlinien und Standards für videobasierte Methoden der Personalauswahl. Was steckt dahinter?
Harald Ackerschott: Dazu muss ich etwas ausholen. Vor fast 20 Jahren wurde die DIN 33430 zur berufsbezogenen Eignungsdiagnostik veröffentlicht, die festlegt, wie eine wissenschaftlich fundierte Beurteilung eines Bewerbers aussehen sollte. An erster Stelle muss dabei die Frage stehen: Eignung wofür? Man muss also erst einmal die genauen Anforderungen des Jobs analysieren: Was soll der Bewerber tun und was muss er können? Aus den Anforderungen leiten sich die Fragen für das Bewerbungsgespräch ab. Fragen nach dem Wetter sind dabei zum Beispiel nicht zielführend. Zudem muss natürlich jeder Bewerber dieselben Fragen bekommen, um die Antworten auch vergleichen zu können. Dazu kommen die Verfahren zur Beurteilung. Dazu gehört etwa das Lesen des Lebenslaufes oder der Zeugnisse. Auch hier muss es darum gehen, was man daraus bezogen auf die Anforderungen entnehmen kann. Wenn ich einen Ingenieur suche, ist ein Diplom-Zeugnis ein passendes Kriterium, eine falsche Absatzformatierung im Anschreiben jedoch nicht. Eine weitere Vorgabe ist, dass das Gespräch und die Beurteilung getrennt werden müssen. Im Gespräch sammelt man die Daten und entscheidet erst danach anhand eines strukturierten Vorgehens. Bei der DIN 33430 handelt es sich um eine allgemein gültige DIN Norm, die als breiter Konsens und unter Anhörung aller relevanten und interessierten Kreise erarbeitet wurde.
Und was ist mit Tests?
Wenn ich bei der Eignungsentscheidung zudem ein Testverfahren einsetze, also ein Online-Assessment, einen Intelligenz- oder einen Persönlichkeitstest, dann muss das ein messtheoretisch fundiertes Verfahren sein. Das heißt, der Test muss die Gütekriterien erfüllen und objektiv, reliabel und valide sein. Und ihm muss eine fundierte Theorie zugrunde liegen. Das ist zum Beispiel nicht der Fall, wenn man aus Mikroexpressionen auf die Persönlichkeit des Bewerbers schließt. Dazu gibt es keine nachprüfbaren Daten und es fehlt eine fundierte Theorie. Auch Typentests sind nicht geeignet. Denn damit kann ich die Eignung von Bewerbern nicht miteinander vergleichen. Damit kann ich noch nicht einmal wirklich feststellen, ob ein Bewerber in Bezug auf eine Anforderung anders ist als ein anderer Bewerber. Die DIN 33430 ist also eine recht umfangreiche Norm zur berufsbezogenen Eignungsdiagnostik.
Die DIN 33430 wurde gerade von den Unternehmen lange Zeit als zu kompliziert kritisiert. Hat sie sich inzwischen denn durchgesetzt?
Mittlerweile ist sie recht anerkannt. Bei Ausschreibungen im öffentlichen Bereich ist sie ein fester Bestandteil. Und Dienstleister wie Testanbieter oder Berater, die Unternehmen bei der Personalauswahl unterstützen, müssen inzwischen häufig belegen, dass sie entsprechend der DIN handeln. Im privaten Sektor wird die Norm eher bei größeren Unternehmen eingesetzt. Bei den kleineren und mittleren Unternehmen, wo der Chef oftmals persönlich den Bewerber auswählt, ist die Wahrscheinlichkeit eher noch gering. Eine Ausnahme sind einige Berliner Start-Ups. Da haben einige bereits die Relevanz der Auswahl versstanden.
Und was hat die DIN 33430 nun mit der neuen DIN SPEC 91426 zu tun?
Die DIN SPEC 91426 ist eine technische Spezifikation. Sie ist ein sogenannter Konsortialstandard. Das bedeutet, sie enthält Qualitätsanforderungen, die von einem Konsortium entschieden wurden, ohne dafür eine breite Öffentlichkeit zu konsultieren. Initiiert wurde sie von der Psychologin Sara Lindemann von Viasto, einem Anbieter für videobasierte Recruiting-Lösungen. Die DIN SPEC soll Unternehmen und Organisationen dabei unterstützen, Schäden durch eine nicht-fachgerechte Anwendung videogestützter Methoden zu vermeiden. Dem Konsortium gehören elf Experten aus der Praxis und Wissenschaft an. Ich selbst bin als Obmann des Arbeitsausschusses Personalmanagement beim DIN e. V. und als einer der Initiatoren der DIN 33430 dabei. Denn auch dieser neue Standard muss sich an der DIN 33430 orientieren.
Was bedeutet das konkret für das Video-Interview?
Zunächst einmal gilt alles, was laut DIN 33430 für das persönliche oder das telefonische Interview gilt, natürlich auch für das Video-Interview. Das betrifft die Anforderungsanalyse, das strukturierte Vorgehen und die Trennung von Datensammlung und Entscheidung. Ein zusätzlicher Punkt sind die Anforderungen an die technische Stabilität und Vorbereitung, die Benutzerfreundlichkeit für Interviewer und Kandidaten, Hinweise für die Handhabung und die Instruktion der Teilnehmer. Denn wenn es technische Probleme gibt, werden die Bewerber eher nervös und der Interviewer vielleicht ungehalten, was natürlich das Gespräch beeinflussen kann. Die Technik muss daher erprobt worden sein und das Interview auch mit allen Gerätetypen möglich sein. Das muss im Vorfeld geklärt und getestet werden. Das klingt trivial, klappt aber leider oft nicht.
Wie sieht so ein videogestütztes Verfahren eigentlich genau aus?
Da gibt es drei Varianten. Die Video-Bewerbung, bei der ein Kandidat statt einem Motivationsschreiben …
Bärbel Schwertfeger ist Diplom-Psychologin, seit 1985 freie Journalistin und Chefredakteurin von WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE HEUTE.