Vorsicht Ansteckungsgefahr: Eine Kündigung kommt selten allein

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Eine datenwissenschaftliche Analyse zeigt, dass die Kündigung eines Kollegen oder einer Kollegin ansteckend sein kann und zu weiteren Abgängen führen kann.

Viele von uns haben es beobachtet, einige mögen sogar daran beteiligt gewesen sein: Sobald ein Kollege oder eine Kollegin die Kündigung einreicht, beginnen die anderen Mitarbeitenden, ihre eigene Position in der Firma in Frage zu stellen. Sie beginnen, andere Möglichkeiten außerhalb ihrer Organisation zu erkunden, bis sie ihrer Firma bei der nächsten Gelegenheit den Rücken kehren. Das kann verschiedene persönliche, berufliche oder wirtschaftliche Gründe haben. Aber auch das Phänomen, dass  Mitarbeitende ihren Job kündigen, weil ihre Kollegen und Kolleginnen gehen, wurde unter dem Begriff „Fluktuations-Ansteckung“ untersucht, wie Caitlin Porter und James Rigby in ihrer Metastudie zeigen.

Fluktuations-Ansteckung wird definiert als die Übertragung der Neigung eines Mitarbeitenden, den Arbeitgeber freiwillig zu verlassen, sobald ein Kollege oder eine Kollegin die Firma verlässt – oder verlassen muss. Dieses bisher wenig beachtetes Phänomen kann zu einer Verschärfung des Fachräftemangels führen, wenn sich gleich mehrere Mitarbeitende gleichzeitig verabschieden. Viele Organisationen unterschätzen daher, welchen Einfluss die Kündigung einer Person auf die Entscheidung der anderen Mitarbeitenden haben kann.

Als Teil eines Forschungsteams bei Visier, einem kanadischen Softwareunternehmen für Personal Analytik mit Niederlassung in Deutschland, forschen wir auf der Basis unser Daten, die über 18 Millionen Datensätze von Mitarbeitende enthält, regelmäßig, um Trends zu erkennen. In einem kürzlich publizierten Experiment haben wir nicht nur festgestellt, dass Kündigungen von einzelnen Mitarbeitenden tatsächlich zu mehr Kündigungen in der Belegschaft führen, sondern auch analysiert, wann und in welchem Team dies am häufigsten der Fall ist.

Der Beweis liegt in den Daten

Um herauszufinden, ob eine Kündigung durch einen Mitarbeitenden tatsächlich auch den Abgang anderer Mitarbeitenden auslöst, wurde eine Analyse von Hunderttausenden tatsächlichen Datensätzen von Personen durchgeführt Sie waren in Organisationen mit mehr als tausend Mitarbeitern in allen Regionen der Welt tätig.

Dabei wurden zwei separate Gruppen von Mitarbeitenden (die wir als „im Team“ und „nicht im Team“ definieren) über einen Zeitraum von Februar 2019 bis Juni 2022 beobachtet und verfolgt, ob eine initiale Kündigung durch einen Mitarbeitenden dazu führen würde, dass die Teamkollegen unter demselben Manager oder derselben Managerin mehr, frühere und häufigere nachfolgende Kündigungen einreichen würden. Für jede „im Team“ Gruppe wurde eine „Kontrollgruppe“ gleicher Größe erstellt, in die Mitarbeitende zufällig zuordnet wurden, die nicht Teil dieses Teams waren. Dies ermöglichte, den Effekt von Kündigungen auf Teamkollegen direkt zu messen – indem wir sie mit Mitarbeitenden verglichen, die keine Teamkollegen sind – über denselben Zeitraum nach einer „initialen Kündigung“.

In der Stichprobe wurde deutlich, dass nach der initialen Kündigung eines Mitarbeitenden eine Zunahme der nachfolgenden Kündigungen ihrer Kollegen oder Kolleginnen (im Team) zu verzeichnen war. Im Gegensatz zu Mitarbeitenden, die nicht im Team waren und ebenfalls Kündigungen im Zeitraum der Studie erlebten, reichten die Mitarbeitenden im Team ihre Kündigungen früher ein und dies in höherer Häufigkeit, nachdem ihr erster Kollege oder ihre erste Kollegin gekündigt hatte. Der Effekt der Fluktuations-Ansteckung wurde also unterstützt. Die Wahrscheinlichkeit für weitere Kündigungen ist um 9,1 Prozent höher als bei den anderen Mitarbeitenden, die nicht im Team waren.

Der Zeitraum für die Ansteckungsgefahr

In der Praxis stellt sich als Nächstes die Frage, wie lange dieser Ansteckungseffekt in einem Team tatsächlich seine Wirkung zeigt. Müssen sich Manager und Managerinnen nur in den ersten Wochen nach einer Kündigung Sorgen um weitere Personalabgänge machen, oder hält das Risiko länger an?

Die Analyse ergab, dass der Effekt der Fluktuations-Ansteckung zwar bereits am Tag der Kündigung eines Teammitglieds steigt, aber erst etwa nach 45 Tagen wahrscheinlicher wird. Etwa 70 Tage nach der initialen Kündigung erreicht er seinen Höhepunkt und verschwindet ungefähr nach 135 Tagen – also viereinhalb Monate nach der ersten Kündigung – wieder.

Abbildung: Zeitrahmen für Fluktions-Ansteckung

Das Wissen um den Zeitraum der Ansteckungsgefahr ist allerdings auch eine Chance für Manager, innerhalb dieses Zeitraums auf die bestehenden Teammitglieder zuzugehen. In einem informellen Gespräch kann offen über die Auswirkungen der Kündigung des Kollegen oder der Kollegin gesprochen werden und eventuelle Gefahrenquellen von Frustrationen oder Erwartungshaltungen seitens des Teams können proaktiv angegangen werden.

Höhere Ansteckungsgefahr in kleineren Teams

Im nächsten Schritt wollten wir wissen, ob der Effekt der Ansteckung je nach Größe des Teams stärker oder schwächer ist. Es zeigt sich, dass der Effekt der Ansteckung mit der Größe des Teams zusammenhängt. In einem Team mit zwei Personen liegt er 25,1 Prozent, in Teams mit drei bis fünf Personen bei 12,1 Prozent und bei Teams mit sechs bis zehn Mitgliedern bei 14,6 Prozent.

Abbildung: Effekt der Fluktuationsansteckung nach Teamgröße

Diese Ergebnisse stimmen mit dem überein, was über den Zusammenhang zwischen Teamgröße, Teamzusammenhalt und Leistung bekannt ist. Dabei liegt eine allgemein akzeptierte Richtlinie für die „ideale“ Teamgröße zwischen fünf und sieben Mitgliedern. Die Tatsache, dass Teams mit sechs bis zehn Mitgliedern eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Effekte der Fluktuations-Ansteckung aufweisen, scheint diese Zahl zu bestätigen, jedoch nicht ohne auf eine mögliche Kehrseite hinzuweisen. Kleinere, stärker vernetzte Teams mögen möglicherweise besser abschneiden, aber das Risiko der Fluktuations-Ansteckung steigt ebenfalls.

Die Psychologie dahinter

Warum fällen Menschen wichtige Entscheidungen wie die Kündigung eines Jobs aufgrund der Entscheidungen anderer? Das Wissen um die Fluktuations-Ansteckung weist auf die soziale Verbindung zwischen Mitarbeitern hin.

Menschen ahmen das Verhalten anderer nach. Die Theorie des sozialen Lernens nach Albert Bandura zeigt, wie Menschen das Verhalten anderer imitieren, insbesondere wenn sie sehen, dass ihre Kollegen für ihr Handeln belohnt wurden. Wenn ein Kollege den Job wechselt, mehr verdient, mehr Entwicklungsmöglichkeiten erhält und glücklicher ist, streben sie dasselbe an.

Menschen haben Schwierigkeiten mit Veränderungen. Neuropsychologische Forschung zeigt uns, dass ein Teil unseres Gehirns, die Amygdala, Veränderungen als Bedrohung interpretiert und die Hormone für Angst, Kampf oder Flucht freisetzt. Manchmal verlassen Menschen die Organisation, weil die neue Situation, die durch die Kündigung ihres Kollegen verursacht wird, ein Gefühl der Unsicherheit erzeugt, das sich unangenehm und frustrierend anfühlt.

Menschen fühlen sich verraten. Die Theorie des psychologischen Vertrags zeigt uns, dass Mitarbeiter das kollegiale Gefühl „wir stehen alle zusammen“ durch den Weggang ihres Kollegen erschüttert sehen. Damit stellen sie auch in Frage, ob sie selbst im Job bleiben sollten. Ein Verstoß (oder Bruch) des psychologischen Vertrags durch den Arbeitgeber – verursacht durch Kündigungen oder Entlassungen – kann daher plötzliche und starke Konsequenzen für die verbleibenden Mitarbeitenden haben, die sich negativ auf die Zufriedenheit, das Engagement und die Leistung auswirken können und die Absicht zur Fluktuation erhöhen können.

Menschen entwickeln die Angst, etwas zu verpassen. Die Theorie des sozialen Vergleichs erklärt, wie Menschen Informationen darüber verarbeiten, wie andere sich verhalten oder kommunizieren und was es für sie bedeutet. „Fear Of Missing Out“, oft als FOMO bezeichnet, kann durch die Kündigung eines Kollegen ausgelöst werden und dazu führen, dass Mitarbeitende ihren Platz in der Organisation in Frage stellen. Indem sie die nächste neue Jobmöglichkeit ihres Kollegen mit ihrer eigenen vergleichen, fragen sie sich, ob sie auch von den Aufstiegschancen eines anderen Unternehmens oder der Aussicht auf ein höheres Gehalt profitieren könnten.

Zusammenfassung

Die Erkenntnisse, die auf tatsächlichen, live erfassten Mitarbeiterdatensätzen beruhen, bestätigen, was schon lange vermutet wurde: Menschen verlassen tatsächlich eine Organisation als Reaktion auf die Kündigungen ihrer Teammitglieder – weil solch bedeutsame Ereignisse nicht isoliert auftreten, sondern innerhalb des sozialen Umfelds einer Arbeitsgruppe oder eines Teams.

Diese Informationen bieten wertvolle Einblicke über das potenzielle Risiko der Fluktuations-Ansteckung. Dies ermöglicht HR, Geschäftsleitern und Abteilungsleitern, das Verhalten der Mitarbeitenden in Organisationen besser zu verstehen, und die Risikobewertung und Strategien zur Talentbindung gezielter zu planen. So sollten sich Manager oder Managerinnen bewusst sein, dass Mitarbeitende in kleineren Teams oft engere Beziehungen miteinander pflegen und daher die Ansteckungsgefahr von Kündigungen größer sein kann. Weiter ist es hilfreich zu wissen, in welchem Zeitrahmen die Ansteckung in den Teams passieren können, und entsprechende Interventionen zu planen.

Weitere Literatur

Bandura, A. (1977). Social learning theory. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.

Porter, C. & Rigby, J.R. (2021). The turnover contagion process: An integrative review of theoretical and empirical research. Journal of Organizational Behavior. 42: 212-228

Smessaert A. et. al. (2022). Turnover contagion is real: A data-based approach to reducing attrition. Visier Research & Insights, abgerufen am 23.8.2023: https://www.visier.com/lp/turnover-contagion/

Dr. rer. pol. Andrea Derler, Doktor der Wirtschaftswissenschaft,  Fernuni Hagen, Magistra der Philosophie (Mag. phil.),  Karl-Franzens-Universität in Graz., ist Principal für Forschung und Kundennutzen bei dem People-Analytics-Unternehmen Visier in Vancouver, Kanada

Dr. Anton Smessaert, Doktor der Physik, University of British Columbia, und Master of Science (M. Sc.), Technischen Universität in Berlin mit Schwerpunkt Machine Learning, ist der Leiter für Data Science & Engineering bei dem People-Analytics-Unternehmen Visier in Vancouver, Kanada.

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