Face Reading – Eine Pseudowissenschaft im Aufwind

Pixabay Gerd Altmann

Gesichter-Lesen ist gefragt. Dahinter steckt ein wildes Sammelsurium aus der Deutung von Körpersprache und Micro-Expressions sowie Psycho-Physiognomik, das eine schnelle Beurteilung der Persönlichkeit verspricht. Auch Personalmanager fallen darauf herein.

Wäre es nicht wunderbar, wir würden einem Bewerber gleich bei der ersten Begegnung geradewegs durch die Augen tief in die Seele blicken oder wir wären in der Lage, aus kleinsten nonverbalen Regungen des Gegenübers ein komplettes Persönlichkeitsprofil zu erstellen? Ja, das wäre in der Tat ein Wunder. Auch wenn die Psychologie in den letzten 150 Jahren noch keinen solchen Menschenkenner gefunden hat, so gibt es doch viele, die von sich glauben ein solcher zu sein.

Besonders gefragt ist „Face Reading“ – ein wildes Sammelsurium verrückter Ideen und Methoden, in dem eher zufällig hin und wieder auch ein ganz kleines Fünkchen Wahrheit aufblitzt. Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, es mit der klassischen Pseudowissenschaft der Psycho-Physiognomik gleichsetzen. Das auf Modernität und Coolness getrimmte Face Reading geht jedoch deutlich über die Schädeldeutung hinaus. Je nach Anbieter setzt sich der Ansatz aus drei oder mehr Bausteinen zusammen: Psycho-Physiognomik, Deutung der Körpersprache und die sogenannten Micro-Expressions, minimale Äußerungen der Mimik, mit denen man angeblich jeden Lügner entlarven kann.

Zombie der Küchenpsychologie

Die Psycho-Physiognomik  ist eine Art Zombie der Küchenpsychologie – eigentlich schon lange tot und doch immer noch erstaunlich lebendig. Im Kern geht es um die uralte Überzeugung, dass sich in der Form des Schädels und der Gesichtszüge eines Menschen Informationen über seine Persönlichkeit, Talente, Motive etc. spiegeln (Kanning, 2010; Schwertfeger, 2006). Schon Aristoteles wird nachgesagt, er habe das Aussehen von Menschen mit dem von Tieren verglichen, um Aufschluss über das Wesen eines Individuums zu erlangen. Wer einem Schaf ähnelt, wäre demnach intellektuell eher einfach gestrickt, während ein Gesicht, das wir mit einem Wolf assoziieren, auf einen verschlagenen Charakter hindeuten soll. Über die Jahrhunderte hinweg hat es immer wieder Ansätze gegeben, bei denen vom Habitus auf die innere Gestalt geschlossen wurde. Ende des 18. Jahrhunderts legte Johann Caspar Lavater ein vierbändiges Opus Magnum vor, in dem u. a. dargestellt wird, woran sich ein intelligente…

Professor Uwe Peter Kanning, Diplom-Psychologe, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück.

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