Wenn Manfred Spitzer, wie im September 2018 („Die Smartphone Epidemie“) geschehen, ein neues Buch auf den Markt bringt, in dem er wieder einmal vor den Gefahren der digitalen Welt warnt, so dürften etliche Leser kaum überrascht gewesen sein. Im Fall von Jaron Lanier sieht das etwas anders aus. Bei einem Pionier des Konzeptes der Virtuellen Realität und prototypischem Nerd würde man eigentlich eher erwarten, dass er dem in dieser Szene üblichen Fortschrittsoptimismus anhinge. Das ist in seinem Fall allerdings nicht (mehr) so. Vielmehr hat er sich zu einem – wie ja bereits der Titel des Buches mehr als deutlich macht – dezidierten Kritiker aktueller Phänomene im Web entwickelt. Insbesondere im Bereich der sozialen Netzwerke sieht er gefährliche Fehlentwicklungen am Werk. Die bringen ihn zu der Forderung, dass der Leser alle seine Social Media Accounts löschen sollte und zwar nicht irgendwann, sondern sofort.
Lanier möchte, dass der Leser nach der Lektüre weiß, wie er in einer Welt, in der er überwacht und von Algorithmen bedrängt wird, selbstbestimmt bleiben kann. Der Autor verfolgt also ein klassisch aufklärerisches Ziel. Insgesamt werden zehn Gründe aufgeführt, wieso man seine Social Media Accounts löschen sollte. Das geht vom Erwartbaren über das Amüsante bis zu Aspekten, an die man vielleicht selbst nicht gedacht hätte. Erwartbar ist die Warnung vor dem Verlust des freien Willens, weil man die personalisierten Botschaften und Werbeeinblendungen nicht mehr so leicht durchschauen kann wie früher bei klassischer Werbung oder Propaganda. Die Gefahr der Manipulation steigt dadurch deutlich an, aber auch die der Paranoia vor Manipulation, wenn man beginnt, hinter jeder Botschaft einen Manipulationsversuch zu vermuten. Ein amüsanter Grund, nicht bei sozialen Netzwerken dabei zu sein: Man verhindere auf diese Weise, so Lanier, anderenfalls fast zwangsläufig zum Arschloch zu werden, weil sich das eigene Verhalten online deutlich von dem unterscheide, dass man eigentlich offline zeigen würde. Als Illustration für dieses Phänomen muss Donald Trump herhalten, der sich vom leicht selbstironischen Fernsehmoderator zum online kaum noch kontrollierten Twitter-Berserker entwickelt habe.
Ein Grund, an den man selbst vielleicht nicht unbedingt gedacht hätte, ist die Förderung von prekären Arbeitsverhältnissen durch Social Media. Menschen, die in dieser sogenannten Gig Economy arbeiten, bekommen eben nur dann Geld, wenn sie einen Gig, also einen kleinen Auftrag erhalten. Das macht die Familien- und Lebensplanung schwierig und führt zu gesellschaftlich unerwünschten Folgen.
Insgesamt liefert Lanier eine überzeugende Argumentation, insbesondere deshalb, weil er nicht grundsätzlich alles Neue oder Digitale ablehnt und auch öfter positive Effekte des Webs betont. Er möchte aber ein anderes Web, in dem jeder auch Eigentümer seiner persönlichen Daten ist und frei über deren Verwendung entscheiden kann.
Bernd Kaderschabek, Kommunikationsberater in Straubing
Jaron Lanier
Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst
Hofmann und Campe, Hamburg
2018, 208 Seiten, 14 Euro