Microlearning: Je kleiner desto besser?

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Kurze Lern-Häppchen sind geeignet zur schnellen Informationsbeschaffung, aber nicht zum tiefergehenden Lernen von komplexen Inhalten

Niemand mag lange Trainings. Für unsere moderne Lern- und Arbeitswelt sind kurze Lern-Nuggets „in the moment of need“ viel passender. E-Learnings mit umfangreichem Content oder Trainings, bei denen wir tagelang in Seminarräumen rumsitzen sowie das Vertiefen in dicke Bücher sind heute überflüssig. Modernes Lernen erfolgt problembasiert und selbstgesteuert „in the flow of work“. Kurze Lernhäppchen reichen völlig aus, um uns schnell, bequem und nebenbei jede Art von Wissen und Fähigkeiten zu beschaffen – schnell und nebenbei per Smartphone konsumiert.

Schöne neue Welt oder gibt es einen Haken?

Die Idee, dass wir uns nur mithilfe kleiner Microlearning-Nuggets nebenbei und anstrengungslos jede Art von Wissen und Fähigkeiten aneignen können, ignoriert den Unterschied zwischen Performance-Support und tiefem Lernen sowie die Tatsache, das Lernen komplex ist. Es besteht ein Unterschied zwischen: „Ich benötige jetzt im Moment eine konkrete Information, weil ich an einer bestimmten Stelle nicht weiterkomme“ und „Ich möchte eine neue Fähigkeit lernen“, z.B. Geige spielen oder Astrophysiker werden. Schnell zeigen, wie etwas geht, ist nicht das Gleiche, wie zu lernen WIE etwas funktioniert sowie die dahinterliegenden theoretischen Konzepte zu durchdringen.

Im ersten Fall geht es um Informationsbeschaffung und eine kurze zielgerichtete Hilfe (Performance Support). Im zweiten Fall geht es, um tiefes Lernen und nachhaltigen Praxistransfer. Dieser passiert nicht nebenher, sondern erfordert eine aktive kognitive Auseinandersetzung mit dem Lernthema sowie strukturiertes Üben, Reflektieren und Wiederholen.

Herausforderungen

  • Microlearning ist nicht für jeden Lerngegenstand ideal. Es gibt Themen und Lernziele, die sich nicht so einfach in Häppchen zerlegen lassen, wie z.B. ethische Reflexion, systemisches Denken oder komplexe theoretische Modelle. An dieser Stelle stößt ein isoliertes Microlearning an seine Grenzen. Denn je komplexer ein Lerninhalt ist, desto wichtiger ist genügend Kontext.
  • Mikrolearning ist kein Ersatz für tiefgehendes Lernen oder komplexe Problemlösung. Detailliertes Fachwissen, das Erlernen neuer Fähigkeiten und kritisches Denken brauchen neben Kontext den Anschluss an Vorwissen sowie Gelegenheiten zur Reflexion und aktiver kognitiver Auseinandersetzung mit dem Thema. Ohne Struktur, didaktisch kluge Konzepte, systematisches Wiederholen und strategisches Üben sowie gegebenenfalls gezielte Unterstützung (z.B. Scaffolding, also die Bereitstellung von vorübergehenden Hilfestellungen oder Stützen, um Lernenden zu unterstützen, bleibt Lernen oberflächlich und der Praxistransfer unvollständig. Kürzer ist also nicht immer und automatisch besser.
  • Erfolgreiches Lernen braucht eine Struktur. Mit unzusammenhängenden Informations-Schnipseln ist es herausfordernd, zusammenhängende Wissensstrukturen aufzubauen. Die Gefahr besteht in der Fragmentierung von Wissen. Lernen ist ein Prozess und kein einmaliger kurzer Event.
  • Wissen bleibt, wenn wir es zeitnah, regelmäßig und korrekt anwenden. Deshalb geht es nicht darum, immer mehr in immer kleineren Häppchen in immer kürzerer Zeit zu lernen, sondern darum, das Gelernte in der Praxis umzusetzen. Das bedeutet, den Lernenden muss der Transfer des Gelernten gelingen. Deshalb ist es wichtig, diesen zu planen und systematisch vor, während und nach dem Training zu unterstützen. Dies in ein kurzes unzusammenhängendes Microlearning-Nugget zu integrieren, ist herausfordernd.Microlearning ist eng mit dem Konzept des selbstgesteuerten Lernens verbunden. Lernen soll „in the moment of need“ und „in the flow of work“ erfolgen. Tatsache ist jedoch, dass nur ein kleiner Teil der heutiger Lernenden versierte selbstgesteuerte Lernende sind. Der Großteil benötigt an der einen oder anderen Stelle Unterstützung, sei es beim Thema Motivation, Durchhalten, Zeitplanung oder der passenden Lernstrategie. Lernmotivation und Durchhaltevermögen sind keine Selbstläufer. Bei geringer Eigenmotivation und ohne Unterstützung besteht die Gefahr von Überforderung und Abbruch (drop out).
  • Technik und Verfügbarkeit allein lösen keine Lernprobleme. Eine Microlearning-App ist ein Werkzeug. Wie jedes andere Werkzeug auch „macht“ auch die App oder der Videoschnipsel kein Lernen, sondern nur eine kluge und kompetente Nutzung im Sinne des Lernziels kann Lernprozesse fördern und unterstützen.
  • Microlearning hilft weder gegen kurze Aufmerksamkeitsspannen noch gegen schnelles Vergessen. Echte Problemlösung, zielgenaue Adressierung der Arbeits- bzw. Lebenswelt der Lernenden sowie interessante und nützliche Inhalte und die aktive kognitive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand sorgen dafür, dass wir uns Lerninhalte merken. Wie lange wir einem Lernthema Aufmerksamkeit schenken und ob wir uns einen Lerninhalt merken, hängt nicht von unserer heutigen angeblichen kurze Aufmerksamkeitsspannen eines Goldfisches oder einer mythischem Vergessenskurven ab, sondern davon, wie relevant der Lerninhalt in den Augen der Lernenden ist. Wir schenken Themen Aufmerksamkeit und merken uns Informationen, wenn diese in unseren Augen relevant und nützlich sind und wir mit den ihnen an unser Vorwissen anknüpfen können.

Missverständnisse rund um Microlearning

Microlearning ist mehr als das Zerlegen von Lerninhalten in Häppchen. Das Spektrum möglicher Anwendungen geht über kurze Videoschnipsel und simple Quizfragen hinaus und umspannt unterschiedlichste multimodale Formate und Interaktionsformen.

Wirksame Microlearnings zu erstellen ist anspruchsvoll. Denn dabei geht um eine kluge didaktische Reduktion auf die relevantesten und für das jeweilige Lernziel nützlichsten Kerninhalte. Diese werden in einen durchdachten methodischen und didaktischen Rahmen eingebettet. Das bedeutet: Kürze ist kein Selbstzweck. Entscheidend ist die didaktische Qualität, bzw. wie zielgenau Inhalte, Medien und Methoden auf die beabsichtigten Lern- und Performanceziele, das Lernthema, den Lernkontext sowie das Vorwissen und die Charakteristika der Zielgruppe abgestimmt sind. Microlearnings sind außerdem kein Ersatz für tiefes Lernen. Sie können aber – passend konzipiert und an den richtigen Stellen eingesetzt – eine wertvolle Ergänzung bilden

Woher kommt das Konzept Microlearning?

Entgegen vieler Behauptungen Microlearning sei eine Erfindung des Smartphone-Zeitaltes, ist die Idee ein alter Hut. Bereits 1963 prägte Hector Correa den Begriff in seinem Buch „The Economics of Human Resources“. Er beschrieb Microlearning als das „Erlernen einfacher Fähigkeiten in kleinen Schritten“. Das Konzept, Wissen häppchenweise zu vermitteln, ist noch viel älter.

Forschung zum Thema Microlearning gab es ab den 2000er Jahren vor allem im Kontext E-Learning – und zwar im Zusammenhang mit der Kritik an ineffektiven E-Learning-Programmen und dem Wunsch nach alltagsnaher, mobiler, informeller Bildung. Seitdem interessiert sich unter anderem die Lehr- und Lernforschung, die pädagogische Psychologie sowie die Forschung zum multimedialen Lernen für das Thema.

Echte Verbreitung fand Microlearning mit der Digitalisierung und der Verbreitung von Smartphones. Ab 2010 wurden Mobile-Learning und Microlearning-Apps populär. Mit diesen entstand die Möglichkeit für schnelles, mobiles, multimodales Lernen. Daneben trugen Kurzvideos (Reals, Tutorials, How-to-Videos) auf Social Media Plattformen zur Verbreitung der Idee bei.

Heute ist Microlearning vor allem im Corporate Bereich als moderne Lösung für Zeitmangel, sinkende Aufmerksamkeitsspannen und „Learning in the flow of work“ beliebt und gilt als eine Komponente von „New Learning“. Das Aufkommen von KI-Tools im Bereich des Corporate Learning in den letzten zwei Jahren verstärkte wieder einmal die Erwartung, dass das der Einsatz von digitalen Technologien zu effektiverem Lernen führt und Lernprobleme löst.

Yvonne Konstanze Behnke: Lernmythen aufgedeckt: Wie wissenschaftliche Evidenz effektives Lernen und Praxistransfer im Unternehmen fördert. Freiburg: Haufe Verlag, 2025

 

 

Potenziale von Microlearning

Microlearning ermöglicht Lernen in kurzen Zeitfenstern und kann nützlichen, jederzeit zugänglichen Performance-Support liefern – genau dort und dann, wenn Lernende diesen benötigen – als Unterstützung bei einer konkreten Aufgabe oder als schnelle Information, die gerade gebraucht wird.

Microlearnings können einen niedrigschwelligen Zugang in eine Lernwelt bieten. Dieser Zugang kann Neugier wecken und die Tür zu einem Lernthema öffnen, z.B. über kurze leicht konsumierbare Lern-Nuggets in Apps oder How-to-Videos auf Social Media Plattformen. Strategisch und didaktisch klug in ein größeres Konzept integriert, kann Microlearning einen wertvollen Baustein einer Lernreise bilden. Ein isoliertes Microlearning-Nugget ist jedoch kein Ersatz für komplexes, tiefes Lernen.

So gelingt Microlearning:

  • Microlearning funktioniert gut, wenn es in ein didaktisches Gesamtkonzept eingebettet ist, d.h. nicht als isolierte Maßnahme, sondern als Strategie, Tool und ein Lernbaustein unter mehreren begriffen wird. Es kann in eine Learning Journey integriert sein, die Reflexionsgelegenheiten, Feedback, ein adaptiven Unterstützungssystem sowie gezieltes Üben (deliberate practise) und strategisches Wiederholen (spaced repetion) unterstützt.
  • Daneben ist es klug, gezielt selbstgesteuertes Lernen zu fördern (Metakognition, Zeitmanagement, Lernstrategien) sowie Lernende durch Feedback und Kollaborationsangebote wie Peer-Learning zu unterstützen. Selbstgesteuertes Lernen bedeutet nämlich nicht völlige Autonomie und ist auch kein Selbstläufer, sondern es erfordert besonders zu Beginn eine auf den Lernenden abgestimmte Unterstützung.
  • Größere Themen können durch mehrere, didaktisch sinnvoll aufeinander aufbauende Microlearning-Elemente verbunden werden, um zum Beispiel Wissen zu vernetzen und Themen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
  • Gelungenes Microlearning beruht auf einem zielgenauen Konzept, das eine sinnvolle didaktische Reduktion beinhaltet. Voraussetzung dafür ist, die Hausaufgaben zu machen, das heißt, den richtigen Leuten die richtigen Fragen zu stellen, um in Erfahrung zu bringen, welches Vorwissen die Zielgruppe hat, was ihre Lernbedürfnisse sind und wo deren Schuh drückt. Auf Basis dieser Informationen gilt es dann, ein in den Augen der Zielgruppe interessantes und relevantes Lernerlebnis zu schaffen, das deren Probleme adressiert, anregt Lösungen zu erarbeiten sowie den Praxistransfer gezielt fördert.
  • Microlearning eignet sich für Performance Support und situatives Lernen, als Integration in ein Konzept zum strukturierten Wiederholen von Lerninhalten oder auch als Teil einer adaptiven Lernerfahrung.

Fazit: Qualität vor Kürze

Kürzer ist nicht immer besser und Microlearning funktioniert nicht überall. Entscheidend ist die sinnvolle Integration in ein durchdachtes Lernökosystem. Qualität und gute Didaktik gehen vor.

Microlearning kann ein wertvolles Lernformat sein – wenn es gezielt und bewusst eingesetzt wird und Teil einer durchdachten Strategie ist. Dafür muss es kompetent gestaltet sein – in einer klugen Kombination aus gezielter Fragmentierung, systematischer Einbettung und inhaltlicher Tiefe. Ziel sollte die aktive kognitive Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt sein und das Vermeiden von passivem Konsum

Noch eine Sache: Wird behauptet, dass eine Methode immer, bei allen Lernenden, Lernthemen und Lernzielen funktioniert, sollten wir skeptisch sein, denn dann besteht Lernmythenalarm.

Weitere Literatur

Correa, H. (1963). The economics of human resources. Amsterdam: North-Holland Publishing Company.

Hug, T., Lindner, M., & Bruck, P. A. (Eds.). (2006). Microlearning: Emerging Concepts, Practices and Technologies after e-Learning. Proceedings of Microlearning 2005. Innsbruck: Innsbruck University Press.

Hug, T., (2007). Didactics of Microlearning: Concepts, Discourses, and Examples. Münster: Waxmann Verlag.

Kohnke, L. (2024). The future of teacher professional development and microlearning. In Optimizing digital competence through microlearning (Chap. 7). Springer. https://doi.org/10.1007/978-981-97-8839-2_7

Leong, K., Sung, A., Au, D., & Blanchard, C. (2020). A review of the trend of microlearning. Journal of Work-Applied Management. Leeds: Emerald Publishing. https://doi.org/10.1108/JWAM-10-2020-0044

Sedgman, S. (2024). Microlearning myths: Busting misconceptions about bite-sized learning. LearnExperts. Verfügbar unter https://www.learnexperts.ai

Stangl, W. (2025). Mikrolernen. Verfügbar unter: https://www.stangl-taller.at/LEXIKON/Mikrolernen.shtml

Shank, B. (2021). Microlearning, Macrolearning. What Does Research Tell Us? Verfügbar unter: https://elearningindustry.com/microlearning-macrolearning-research-tell-us

Thalheimer, W. (2017). Definition of Microlearning. Verfügbar unter: https://www.worklearning.com/2017/01/13/definition-of-microlearning/

Quinn, C. (2018). Microlearning under the microscope. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=Amjo5eDhG4Q

Dr. rer. nat. Yvonne Konstanze Behnke, Promotion in Didaktik der Geographie zum Thema Lernen mit Medien, Diplom Designerin, zertifizierte E-Learning Projektmanagerin und E-Teaching-Expertin, Didaktische Designerin, Corporate Learning Strategist, Trainerin und Speakerin auf Fachveranstaltungen und Konferenzen zu den Themen evidenzbasiertes Lernen, Lernmythen, Zukunft des Lernens und Digitale Bildung, sowie Künstliche Intelligenz im Corporate Learning

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