Der Code Agiler Organisationen

Die Digitalisierung ist für viele Bedrohung und Verheißung zugleich. Besonders anpassungsfähige Unternehmen, wie der Streamingdienst Netflix, sehen darin eher die Chancen als die Risiken. Nur die Wenigsten wissen jedoch, dass Netflix bereits 1998 mit dem Verleih und Verkauf von DVDs über das Internet begonnen hat. Erst viel später revolutionierte Netflix die Unterhaltungsbranche, in dem es sein Geschäftsmodell durch digitale Transformation in Verbindung mit disruptiver Innovation radikal geändert hat. Einen bedeutsamen Teil dieses Erfolgs verortet die Stefanie Puckett in der agilen Unternehmenskultur. Diese baue bei Netflix auf eine datengetriebene Kultur auf, in der sich die Menschen von diesen Daten auch konsequent leiten lassen.

Doch was macht eine agile Unternehmenskultur aus und wie kann diese erfasst und entwickelt werden? Damit beschäftigt sich die Autorin in den ersten Kapiteln ihres Buches. Sie stellt zunächst fest, dass Kultur nicht so leicht zu fassen ist. Sie ist komplex, ein Produkt aus Konsequenzen, manifestiert sich in ungeschriebene Regeln, ist zäh und schwerfällig. Doch Kultur kann in ihre Elemente zerlegt und auf einem Kontinuum positioniert werden. Kulturwandel bedeutet dann, diese Elemente in ihrer Position zu verändern. Dafür ist es notwendig, Grundannahmen kontinuierlich explizit zu machen, zu hinterfragen und anzupassen. Zum anderen geht es um das Verlernen alter Glaubenssätze und das Einüben neuer Verhaltensweisen.

Daraus wird schon erkennbar, das gemeinsames Lernen und Wachsen ein wichtiger Bestandteil agiler Organisationskulturen ist. Die Autorin plädiert für einen offenen Umgang mit Erfolgen und Misserfolgen. Es soll ein Klima erzeugt werden, in dem Feedback in alle Richtungen genauso geschätzt wird, wie das Einbringen unterschiedlicher Perspektiven. Es sollte ferner eine Kultur etabliert werden, in der es um Reflexion und Lernen geht. Scheitern könnte in diesem Mind-Set als Indikator für Initiative und Risikobereitschaft angesehen werden. Es sollte dann mit Neugierde analysiert und reflektiert werden. Als Werkzeug stellt sie die bekannte Retrospektive vor, die in der einfachen Version vier Fragen beinhaltet: Was lief gut? Was hätte besser laufen können? Was haben wir gelernt? Was verwirrt uns noch?

Im Hauptteil des Buches wird das von der Autorin entwickelte TEC-Modell (Transparency, Empowerment und Collaboration) ausführlich und anschaulich vorgestellt. Es bietet einen Rahmen für agile Organisationskulturen an, in dem das Denken und Gestalten stattfinden kann. Ihr Modell soll dabei helfen Wirkzusammenhänge zu erkennen und eine Zielvision der Kultur zu beschreiben. Zwei Einschränkungen sind ihr wichtig:  Das Modell ist keine Blaupause, sondern muss im Kontext der jeweiligen Organisation betrachtet werden. Und der Zielzustand ist nie erreicht, sondern es geht um permanente Weiterentwicklung, Anpassung und Optimierung.

Das TEC-Modell untergliedert sich in drei Hauptsäulen mit jeweils drei Unterdimensionen

  • Transparenz ist die Basis für strategische und taktische Entscheidungen. Der Kontrollaufwand wird reduziert, Vertrauen gefördert und Selbststeuerung ermöglicht. Die Unterdimensionen der Transparenz beziehen sich auf Informationen und Daten, Pläne und Absichten sowie das Ergebnis und die Wirkung der eigenen Arbeit.
  • Empowerment ist die Freiheit und das Schaffen der Möglichkeit, dass Menschen selbstorganisiert ihr Bestes geben, Initiative ergreifen und Verantwortung übernehmen können. Die Unterdimensionen bestehen aus der Freiheit zum Adaptieren und Kreieren, der Befähigung zum (Selbst-)Führen und dem Ownership mit der Tendenz zum Handeln
  • Kollaboration dient der Befähigung durch siloübergreifendes Arbeiten, gemeinsames Lernen und vernetztes Denken. Kompetenzen werden dort eingesetzt, wo sie am meisten gebraucht werden und gemeinsames Lernen und Reflektieren bringen die Personen und die Organisation voran. Die Unterdimensionen der Zusammenarbeit bestehen aus Austausch und Teilen, Beiträgen und Flexibilität und durch gemeinsames Lernen und Wachsen.

Die Autorin sieht eine Balance zwischen den drei Hauptsäulen als wichtig an. Im letzten Kapitel stellt sie Beispiele für ein Ungleichgewicht in ihrem Modell vor: Hohe Transparenz, hohes Empowerment und niedrige Kollaboration führen zu Einzelkämpfertum, da irgendwo täglich das Rad neu erfunden oder Fehler wiederholt werden. So bleiben Synergien ungenutzt.Niedrige Transparenz, hohes Empowerment und hohe Kollaboration führen leicht zu Misserfolgen, weil Entscheidungen mehr auf Vermutungen und weniger auf Daten beruhen.

Sie weist auch darauf hin, dass es für die meisten Unternehmen nicht realistisch ist, überwiegend leistungsmotivierte Mitarbeitende zu haben, die selbstgesteuert und intrinsisch motiviert permanent Hochleistung bringen. Daher gilt es eine Kultur zu schaffen, in der das Potenzial der Menschen in der Organisation optimal genutzt wird. Der Rezensent hätte sich an dieser Stelle noch einen kurzen Hinweis auf die Notwendigkeit einer wissenschaftlich fundierten Eignungsdiagnostik in der Personalauswahl und -entwicklung gewünscht. Sonst könnte der Eindruck entstehen, dass die Leistungsfähigkeit von Mitarbeitern, vor allem eine unternehmenskulturelle Frage sei. Doch der Mensch und die Anforderungen der Organisation müssen zueinander passen.

Die Autorin ist promovierte Diplom-Psychologin und verfügt über langjährige Praxiserfahrung. Für den wichtigen Praxistransfer bietet das Buch zahlreiche Checklisten, praktische „Hacks“ und Beispiele von agilen Unternehmen, die ungewöhnliche Wege gegangen sind. Ein gelungenes und nützliches Buch für Praktiker, die agile Unternehmenskulturen gestalten wollen.

Rouven Schäfer, Leiter Human Resources Management, DocCheck in Köln

Stefanie Puckett: Der Code Agiler Organisationen –
Das Playbook für den Wandel zur Agilen Organisationskultur.
Göttingen: Business Village, 2020, 24,95 Euro

 

 

Head of Human Resources Management, DocCheck AG

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