Kritik der Positiven Psychologie.

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Die Positive Psychologie (PP) untersucht, was ein erfülltes Leben ausmacht, unter welchen Bedingungen Menschen Glück und Zufriedenheit empfinden und wie sie ihre Stärken entdecken und nutzen können. In den letzten 25 Jahren hat sich die PP als einflussreiche Strömung in der Psychologie etabliert und ist zunehmend in Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft präsent.

Doch welche theoretischen Annahmen und welches Menschenbild liegen ihr zugrunde? Und wie gut sind die wissenschaftlichen Belege?

In ihrem Buch „Kritik der Positiven Psychologie“ setzt sich die Psychologin Senta Brandt mit ihren Ursprüngen und Schwächen auseinander. Denn was auf den ersten Blick als wissenschaftlich fundierte und humanistische Bewegung erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als durchaus fragwürdige Ideologie und lukratives Geschäftsmodell.

Die Ursprünge der Positiven Psychologie

Als Begründer der Positiven Psychologie gilt der Psychologe Martin E. P. Seligman. Im Jahr 2000 veröffentlichte er gemeinsam mit Mihaly Csikszentmihalyi in einer Sonderausgabe des American Psychologist (Vol. 55/1) einen einleitenden Artikel. Csikszentmihalyi war bereits durch seinen Bestseller Flow: The Psychology of Optimal Experience (1990) bekannt.

Dieses „Gründungsmanifest“ der Positiven Psychologie enthielt auch eine prägende Anekdote aus Seligmans Privatleben: Seine Tochter Nikki neigte als kleines Kind zum Jammern, bis sie an ihrem fünften Geburtstag beschloss, damit aufzuhören. Für Seligman war dies ein Hinweis darauf, dass Erziehung nicht primär auf die Korrektur von Defiziten, sondern auf die Förderung positiver Eigenschaften und Stärken abzielen sollte. Aus dieser Überzeugung heraus entwickelte er die Idee einer „Wissenschaft des Glücks“.

Ihre Verfechter betrachten die PP als wissenschaftlich fundierten Gegenentwurf zur traditionellen Psychologie, die sich vorrangig mit Störungen und Defiziten befasst.  Diese angeblich “neue Ausrichtung” der Psychologie auf das Positive, führte um die Jahrtausendwende zu einem intensiven Diskurs mit Vertretern der Humanistischen Psychologie – einer Strömung, die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren konstituierte und den Fokus auf individuelles Potenzial sowie Selbstverwirklichung legte. Bekannte Vertreter dieser Denkschule sind Carl Rogers und Abraham Maslow.

Seligman kritisierte, dass die Humanistische Psychologie zu subjektiv sei, da sie sich stark auf persönliche Erfüllung konzentriere, ohne ausreichend wissenschaftliche Belege für ihre Annahmen zu liefern. Brandt stellt jedoch fest, dass sich die Abgrenzung der Positiven Psychologie nicht nur aus strategischen Erwägungen ergab, sondern auch ihrem Selbstverständnis entsprach. Seligman und Csikszentmihalyi betrachteten die Ursprünge der PP nicht in der Humanistischen Psychologie, sondern in ihren eigenen wissenschaftlichen und persönlichen Lebenswegen, so Brandt.

Verbreitung und Einfluss der PP

Ihre Verbreitung zeigt sich in Fachpublikationen sowie zahlreichen akademischen Programmen. Martin Seligman und seine Anhänger treten dabei nicht mit der für Wissenschaftler üblichen Nüchternheit auf, sondern in einer enthusiastischen, fast missionarischen Weise, so die Autorin, die dahinter auch ökonomische Interessen und machtpolitische Motive vermutet.

Ein Kapitel widmet sich der Verbreitung der Positiven Psychologie in Deutschland und ihren bekanntesten Vertretern in der akademischen Welt. Brandt zeigt auf, dass die Bewegung längst in der Psychotherapie-Szene, an Schulen und sogar bei der Bundeswehr Fuß gefasst hat. Auch zahlreiche Coaches und Unternehmen setzen bereits Programme ein, die auf den Prinzipien der PP basieren.

Laut Autorin verfolgt die Bewegung seit über 20 Jahren eine klare Mission: die Normierung und Optimierung des Menschen durch psychologische Erkenntnisse, Methoden und Techniken. Anders ausgedrückt: die Schaffung eines neuen Menschen, der gesund, erfolgreich und glücklich ist. Dies passt perfekt in einen Zeitgeist, in dem (Selbst-)Optimierung zunehmend Teil der individuellen Identität wird.

Brandt betont, dass die wissenschaftliche Psychologie dieser Entwicklung mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. Doch die akademische Psychologie zeigt sich – abgesehen von wenigen Ausnahmen – zurückhaltend in ihrer Kritik. Doch wie funktioniert das mit dem positiven Denken in der PP?

Das PERMA-Modell – Ein Baukasten für Glück?

Die Positive Psychologie behauptet, dass Menschen Glück und Wohlbefinden gezielt fördern können. Glückliche Menschen seien demnach in der Lage, ihre Gefühle und Gedanken bewusst zu steuern, auch unter widrigen Umständen an ihren Zielen festzuhalten, Widerstände zu überwinden und optimistisch zu bleiben.

Ein zentrales Konzept ist das von Seligman entwickelte PERMA-Modell. Dies umfasst fünf wesentliche Elemente:

  1. Positive Emotions (Positive Emotionen) – Freude, Dankbarkeit und Zufriedenheit als Grundlage für Wohlbefinden.
  2. Engagement (Engagement) – Das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit („Flow“).
  3. Relationships (Beziehungen) – Soziale Verbundenheit als Schlüsselfaktor psychischer Gesundheit.
  4. Meaning (Sinnhaftigkeit) – Das Erleben eines tieferen Zwecks im Leben.
  5. Accomplishment (Leistung) – Zielerreichung und Erfolg als Quelle von Selbstwirksamkeit.

Doch das Modell steht in der Kritik: Seine empirische Fundierung ist unzureichend, und überzufällige Korrelationen allein begründen noch keine Kausalzusammenhänge. Kritiker bemängeln, dass unklar bleibt, ob diese fünf Faktoren tatsächlich Glück bewirken – oder ob glückliche Menschen einfach eher diese Eigenschaften in ihrem Leben aufweisen.

Was bedeutet „positiv“ überhaupt?

Ein weiterer, zentraler Kritikpunkt an der Positiven Psychologie ist ihr Begriff von „positiv“, der als naiv und dualistisch betrachtet wird. Demnach wird das Positive oft lediglich als Gegenteil von Negativem definiert – sei es in Form von unerwünschtem Verhalten oder fehlerhaften Denkprozessen. Doch was für den einen positiv ist, kann für den anderen negativ sein.

Ein wesentliches Problem sieht die Autorin darin, dass diskursbestimmende Personen festlegen, was als positiv gilt, obwohl es keinen objektiven, universellen Maßstab für Positivität gibt. Vielmehr sei die PP genau das, was der amerikanische Zeitgeist erwarte: eine Weltanschauung, die in kritischen Stimmen bereits als „Tyrannei des Positiven“ bezeichnet wird. Diese Tyrannei äußert sich in der kulturellen Erwartung, ständig positiv zu denken sowie positive Emotionen und Einstellungen zu kultivieren – weitgehend unabhängig vom Kontext.

Die Kehrseite dieser Denkweise ist, dass diejenigen, die ihr Leben nicht erfolgreich optimieren, selbst für ihr Scheitern verantwortlich gemacht werden. Die PP propagiert damit ein spezifisches Menschenbild des positiven Individualismus: Menschen sind entweder für ihr Glück verantwortlich – oder zumindest für ihren Umgang mit den eigenen Gefühlen und Gedanken, unabhängig von äußeren Umständen.

Charakterstärken oder ideologische Konstruktion?

In der Positiven Psychologie wird das Buch Character Strengths and Virtues von Martin Seligman und Chris Peterson aus dem Jahr 2004 oft als „Un-DSM“ bezeichnet. Während das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) psychische Störungen klassifiziert, konzentriert sich das „Un-DSM“ auf positive menschliche Eigenschaften und Tugenden.

Dieses Modell wird Values-in-Action (VIA) genannt und umfasst 24 Charakterstärken, die sechs übergeordneten Tugenden wie Weisheit und Mut zugeordnet sind. Eine deutsche Übersetzung des zugehörigen Fragebogens ist an der Universität Zürich verfügbar.

Kritiker bemängeln, dass die Auswahl der Charakterstärken und Tugenden nicht wissenschaftlich neutral, sondern ideologisch geprägt sei. Es bestehe der Verdacht, dass konservative Werte wie Tapferkeit und Ausdauer stärker mit Glück verknüpft werden als eher progressive Werte wie Emanzipation oder Soziales. Doch auf welcher wissenschaftlichen Grundlage beruht die Auswahl? Zudem wird die Evidenzlage in Studien infrage gestellt.

Die millionenschwere Zusammenarbeit zwischen der US Army und Seligman, wird von Brandt als ein Beleg für die Geschäftstüchtigkeit vorgestellt. Ziel war es, mithilfe der Positiven Psychologie die Resilienz von Soldaten zu stärken, damit sie auch nach Kriegstraumata weiterhin einsatzfähig bleiben oder sogar daran wachsen.

Seligman schlug vor, dass psychische Widerstandsfähigkeit genauso wichtig sei wie körperliche Fitness und dementsprechend trainiert werden sollte. Die Kritik umfasst ethische Bedenken, dass Resilienzprogramme Soldaten dazu bringen könnten, traumatische Erlebnisse zu akzeptieren, weil man keine Schwäche zeigen möchte, anstatt Hilfe zu suchen. Schließlich besteht auch die Gefahr, dass solche Programme missbraucht werden, um Soldaten länger in belastenden Situationen zu halten.

Bemerkenswert ist, dass eines der Trainingsprogramme ursprünglich als Präventionsmaßnahme für Kinder entwickelt wurde, um sie vor erlernter Hilflosigkeit zu schützen. Dieses Konzept geht auf Seligmans Experimente …

Head of People bei DocCheck AG

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