Hochbegabte leiden unter hartnäckigen Vorurteilen und ernüchternden Erlebnissen am Arbeitsplatz. Ein Grund: Sie verarbeiten Informationen unterschiedlich und denken schneller. Das erschwert auch die Arbeit im Team.
Was heißt das eigentlich – „hochbegabt“? Seriös wird Intelligenz mit empirisch sauber entwickelten Intelligenztests gemessen. Die Ergebnisse dieser Testverfahren sind sinnvollerweise vergleichbar. Der Intelligenz-Quotient („IQ“) hat einen Mittelwert von 100. Im Bereich der IQ´s von 70 bis 130 befinden sich 95,6 Prozent der Bevölkerung oder anders ausgedrückt: Wer in einem anerkannten Test einen IQ von 130 oder höher zeigt, gehört zu den 2,2 Prozent der Bevölkerung mit dem höchsten IQ (2,2 Prozent der Bevölkerung haben Testerbnisse unter einem IQ von 70). Hierüber herrscht ein weitestgehend weltweiter Konsens. Der IQ stellt einen Wert da, der die Fähigkeit zum logischen Denken im Vergleich zur Gesamtbevölkerung zeigt.
Intelligenztests unterscheiden sich in den Aufgabenstellungen. Es gibt Tests, die unter anderem Rechenaufgaben und verbale Aufgaben enthalten. Es gibt deshalb auch sogenannte kulturfreie Testverfahren, die lediglich figürliche Darstellungen nutzen. Beispielsweise, wenn ein Testkandidat nicht genügend Sprachkenntnisse hat, um die verbalen Aufgaben zu verstehen. Oder bei grundsätzlichen Schwierigkeiten mit erworbenem Schulwissen.
Tatsache bei allen individuellen Unterschieden Hochbegabter: Hochbegabte denken im Normalfall schneller und komplexer als weniger in diesem Sinne begabte Menschen. Das kann im Alltag durchaus zu folgenschweren Fehleinschätzungen der persönlichen Eigenschaften einer Person führen.
In der Folge können sich gegenseitige Vorurteile stabilisieren und eine berufsbedingte Zusammenarbeit extrem erschweren. Die potentielle Hochleistung eines Teams kann im Keim erstickt werden durch die Ignoranz der unterschiedlichen Kompetenzen der Mitglieder. Oder durch deren gezielte Beachtung deutlich optimiert.
Erziehungsbotschaften durch Eltern
Erziehungsbotschaften können zu verinnerlichten Glaubenssätzen werden, die die Wahrnehmungswelten nicht nur Hochbegabter nachhaltig beeinflussen. Als besonderes kreativ von ihren stolzen Eltern eingeschätzte Kinder beispielsweise sind nicht unbedingt hochbegabt im Sinne der Allgemeinen Intelligenz. Von den Eltern bewundert und gelobt werden, ist etwas Gutes. Wenn Eltern allerdings wegen einiger auffälliger Einzelleistungen die Haltung vertreten, ihr Kind sei ein Genie, kann das für die Entwicklung des Kindes unangenehme Folgen haben. So könnte ein folgenschwerer, unangemessener Leistungsdruck aufgebaut werden, der zu permanentem Stress und damit verbundenen Misserfolgen führt. Natürlich leidet hier auch die Beziehung zwischen Eltern und Kind selbst erheblich.
Verbreitet auch Einredungen von Eltern ihrem Kind gegenüber, Hochbegabung sei sowieso nichts Besonderes, und ihr Kind solle sich ja nichts darauf einbilden. Und das auch nach einem von ihnen selbst hoffnungsvoll initiierten Test mit dem Ergebnis: „hochbegabt“. In der Folge kommt es nicht zu Förderungsmaßnahmen für das Kind, sondern möglicherweise im Gegenteil zu dessen beständiger Unterforderung. „Mein Kind soll doch nicht dadurch auffallen!“ sagte eine Mutter zur Begründung, warum sie ihr hochbegabtes Kind nicht zum Gymnasium, sondern zur Realschule schickte.
Besonders auffällige Phänomene sollten daraufhin geprüft werden, welche Bedeutung sie für die Gesamtentwicklung eines Menschen haben. Was sollte man sinnvollerweise für die Förderung des eigenen Kindes tun? Und was vielleicht lieber nicht? Unter Umständen sind hier gut ausgebildete TherapeutInnen und Coaches gefragt. Sie bringen letztlich Klarheit in die beobachteten Phänomene und deren Bedeutung. Das kann zu einem erfreulichen Miteinander beitragen, in dem mehr oder weniger jeder Beteiligte auf seine individuelle Art zufrieden werden kann.
Dies gilt auch bei der Abklärung anderer auffälliger Phänomene wie zum Beispiel ADHS. ADHS steht für „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ und entsteht durch spezielle neuronale Entwicklungsbedingungen. Es zeigt sich im Verhalten beispielsweise dadurch, dass Betroffene sich nicht dauerhaft konzentrieren können. Die Aufmerksamkeit schwankt schnell, sie wirken „hyperaktiv“ wirken. Früher volkstümlich oft als „Zappel-Phillip“ bezeichnet.
ADHS und Hochbegabung werden in der alltäglichen laienhaften Wahrnehmung oft in Zusammenhang gebracht, ohne darüber wirklich Klarheit zu bekommen durch z.B. Tests. Nicht jeder Hochbegabte hat ADHS und nicht jeder, der ADHS hat, ist hochbegabt. Manchmal kommt es vor, dass beides zusammen auftritt. Das macht es nicht einfacher, aber eine professionell durchgeführte Differentialdiagnose umso wichtiger.
Typisch hochbegabt – Stereotypisierungen
Ein häufiges Vorurteil, das sich extrem negativ auf die Zusammenarbeit mit Hochbegabten auswirkt, ist der Vorwurf sozialer Inkompetenz. Tragischerweise manchmal noch verstärkt durch einen auffällig häufigen Jobwechsel Hochbegabter. Es gibt allerdings keinen ursächlichen Zusammenhang von sozialer Kompetenz und Hochbegabung. Genauso wenig wie bei neuronalen Störungen wie ADHS.
Obwohl es den „typischen“ hochbegabten Menschen nicht gibt, findet man wiederkehrende alltägliche Erfahrungen. Normalbegabte beschreiben das beispielsweise so: „Die sind arrogant!“, „Das ist ein typischer Eigenbrötler, der ist am liebsten alleine…!“ – „…und der weiß alles besser, furchtbar!“ – „die erklären häufig nicht, was sie sagen. Und wenn ich dann sage, dass ich es nicht verstanden habe, wird das als Ablehnung ihrer Person gedeutet. Und das, obwohl es um wesentliche Veränderungen im Unternehmen geht…“, erklärt eine studierte Betriebswirtin und Abteilungsleiterin die schwelenden Konflikte in ihrem Team. „Die nehmen einen als Gesprächspartner nicht wirklich ernst!“ bis zu durchaus abwertenden Äußerungen wie „die glauben wohl sie seien etwas Besseres!“ zitiert sie die Nicht-Hochbegabten im Team. Die Ratlosigkeit ist ihr dabei förmlich ins Gesicht geschrieben.
Eine Untersuchung mithilfe des Fragebogenverfahrens BIP („Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung“) mit mehr als 500 Hochbegabten im Jahre 2011 zeigte Ergebnisse, die im beruflichen Alltag wichtige Auswirkungen auf die Zusammenarbeit haben können. Hier sei beispielhaft ein Ergebnis herausgegriffen: So gaben die befragten Hochbegabten an, eine eher durchschnittliche Leistungsmotivation und gleichzeitig unterdurchschnittliche Führungsmotivation zu haben. Und das bei einer deutlich überdurchschnittlichen Gestaltungsmotivation bezüglich ihres Arbeitsplatzes.
Dieses Phänomen taucht in der Coaching-Praxis regelmäßig auf. Hochbegabte möchten mehr als andere vor allem den eigenen Arbeitsplatz und die damit verbundenen Prozesse optimieren. Dazu gehört auch der Umgang mit Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeitern. Und zwar nicht immer zu hundert Prozent Übereinstimmung mit den vorgegeben hierarchisch strukturierten Prozessen. Dies führt oftmals dazu, dass die beteiligten Kollegen dies auf eine extrem hohe Führungsmotivation zurückführen. Oder dass Hochbegabte im Unternehmen als übergriffig wahrgenommen werden. Wird hier nicht geklärt, wie in der Realität des Alltags miteinander umgegangen wird, kann das zu folgenschweren Fehleinschätzungen und Konflikten führen.
Die Kündigung eines meiner hochbegabten Kunden bei seinem aktuellen Arbeitgeber begründete er so: Ihm wurde nach kurzer Zeit der Titel „Klugscheißer“ verliehen. Er habe auch Regeln oft im Alleingang ignoriert. Die Zusammenarbeit mit seinen Kollegen und Mitarbeitenden wurde dadurch nicht besser. Sein Bericht über das Gruppenklima machte deutlich, dass mittlerweile fast alle Kollegen den Kontakt mit ihm mieden, wo es nur ging.
Hochbegabte wiederum erleben ihre Kollegen und Führungskräfte oft folgendermaßen: „die engagiert sich gar nicht richtig…!“ – „von dem gehen keine kreativen Ideen aus, da brauche ich erst gar nicht drauf zu warten!“, „der geht mir aus dem Weg!“ – „die lässt sich absolut nichts erklären! Aber das würde auch keinen Sinn machen! Bevor ich das alles erkläre, mach ich es doch lieber selber!“, so ein mittlerweile in seiner eigenen Kollegenschaft „vereinsamter“ hochbegabter Projektleiter.
Das Erleben im beruflichen Kontext wird oft vom Umfeld verstärkt: Einschätzungen zum Thema von Eltern, Lehrern und anderen wichtigen Bezugspersonen auch aus der Vergangenheit tragen dazu bei: So verstärken sich womöglich gegenseitige Vorurteile auf die Dauer wie von selbst. Was hierbei oft genug auf der Strecke bleibt, ist die klärende Kommunikation unter den tatsächlich Beteiligten. Es entsteht stattdessen zu guter Letzt auch noch eine Kommunikation „unter vorgehaltener Hand“ mit jeweils Nichtbeteiligten. Das vergiftet die Atmosphäre im gesamten Team weiter statt vorhandene Probleme zu lösen.
Selbstverständlich gibt es solche Phänomene auch unter ganz normal begabten Menschen. Das stereotypisch vorgeprägte gegenseitige Erleben von Normal- und Hochbegabten trägt aber sehr zur Entwicklung und Verstärkung misslungener Kommunikation bei. Der Einsatz von hierarchischer Macht erhält das System selbst möglicherweise länger aufrecht – allerdings weit unter dessen möglichem Niveau inklusive sinkender Leistung!
Mit der Zeit wird es immer schwieriger echte Teamentwicklung zu erleben. Oder gar gezielt zu betreiben. Häufig erleben Hochbegabte in beruflichen Kontexten eine regelrechte Isolierung vom aktuellen eigenen Arbeitsteam. Das führt wiederum dazu, dass wesentlich häufiger als bei anderen Menschen der Arbeitgeber gewechselt wird. „Die Hoffnung stirbt zuletzt! Aber jetzt ist es soweit!“ ist z.B. die Äußerung einer hochbegabten exzellent ausgebildeten Bio-Chemikerin, die sich nach fünf Jobwechseln in sechs Jahren auf die Suche nach Möglichkeiten machte, sich selbstständig zu machen.
Es gibt nicht die typischen Hochbegabten!
Im kürzlich veröffentlichten Buch „Plötzlich hochbegabt“ kommen Hochbegabte selbst zu Wort, die erst spät im Leben als solche erkannt wurden. Es wurde anlässlich der Jahrestagung von Mensa in Deutschland e.V. in Bremen im April 2025 von Anna Campagna, Stefan Giesberg und Ulrich Pieper gemeinsam herausgegeben. Mensa in Deutschland e.V. ist ein Verein für hochbegabte Menschen, der mittlerweile ca. 18.000 Mitglieder hat. Das Buch ist keine „offizielle Vereinslektüre“, aber spannend zu lesen für alle, die sich für das Phänomen Hochbegabung interessieren. Und natürlich für Menschen, die damit ganz spezielle Erfahrungen im Leben gemacht haben. Egal, ob von Hochbegabung selbst betroffen oder als Mensch, der mit Hochbegabten zusammenarbeitet. Vor allem ist es auch ein Plädoyer dafür, sich Klarheit durch eine Testung zu verschaffen, wenn sich die Anzeichen häufen. Viele schwierige und viel Stress erzeugende Themen hängen eben genau mit dem Phänomen einer unerkannten Hochbegabung zusammen. Und sind trotzdem so unterschiedlich wie die Personen selbst.
Die Lektüre macht deutlich, ja geradezu miterlebbar, welchen Schwierigkeiten Menschen ausgesetzt sind, die anders denken als andere. Schneller, komplexer, mit ganz anderen Schwerpunkten der Wahrnehmung. Gerade auch die Erfahrungsberichte machen deutlich, wie wichtig es ist, sich immer wieder mit den tatsächlichen individuellen Eigenschaften von Menschen zu beschäftigen. Einfache Schubladen zur Einordnung und vielleicht Abgrenzung oder gar Abwertung sind hier eindeutig keine Alternative.
Teams: Unterschiede als Chance nutzen
Mitglieder von Teams sind grundsätzlich unterschiedliche Menschen. Sie haben verschiedene Gewohnheiten, Überzeugungen und z.B. unterschiedliche Ausbildungen. Damit auch verschiedene Herangehensweisen an bestimmte Aufgaben. Selbstverständlich wird ja Unterschiedlichkeit in der Zusammensetzung von Teams gewürdigt. Die komplette Belegschaft eines Hotels braucht eben unterschiedliche Fachleute für die Küche, für die Zimmer, für die Finanzierung usw. Die beteiligten Teammitglieder gehen ganz unterschiedliche mit bestimmten Fragestellungen um. Das wundert niemanden. Ganz im Gegenteil: Deswegen gibt es ja unterschiedliche Berufe und Ausbildungen.
In einem Projektteam, das beispielweise für die Entwicklung einer bestimmten Sorte von Maschinen zuständig ist, ist das genauso. Egal, um welches Team es sich handelt: Das Team ist immer gut beraten, unterschiedliche Interessen, Blickwinkel, Kenntnisse und Erfahrungen seiner Mitglieder zu nutzen, um das „Gesamtkunstwerk“, z.B. ein Hotel, erfolgreich zu betreiben.
Dasselbe gilt natürlich auch für die Art und Weise, wie jemand mit einem auftauchenden Problem überhaupt umgeht. Hochbegabte gehen damit oft ganz anders um als man selbst es gewohnt ist. Sie bedenken eventuell mehrere Argumente gleichzeitig und schneller als andere. Sie kommen trotzdem oft nicht blitzschnell zu einer Lösung, sondern zu mehreren Alternativ-Lösungen, die sie dann diskutieren wollen. Das irritiert vielleicht andere Beteiligte. Die wollen nicht unmittelbar nach den optimalen Lösungen schlechthin suchen. Ein Problem soll vor allem schnell und einfach erledigt werden und zwar zu einem klar umgrenzten Thema. Genauso irritierend ist es, wenn Hochbegabte scheinbar ohne überhaupt lange nachzudenken, komplexeste Lösungen präsentieren, die niemand außer ihnen selbst nachvollziehen kann.
Die unterschiedliche Art und Weise an Aufgaben heranzugehen, führt im Alltag oft dazu, dass nicht die fachlich-sachlichen Thematiken einen Lösungsweg bestimmen. Hier geht es oft mehr um finanzielle Möglichkeiten, zeitliche Rahmenbedingungen, eingesetzte Personenzahl usw. Manchmal allerdings auch nur um Macht. Und das soll ja nicht unmittelbar erkennbar sein.
Optimale Lösungen entwickeln Teams oft nur, wenn die unterschiedlichen Perspektiven und Denkweisen der Beteiligten berücksichtigt werden. Das kostet Zeit und Energie, rentiert sich aber eben gerade durch die tragfähigeren Lösungen. Wenn alle Teammitglieder wissen, dass eigene Gedankengänge und Fertigkeiten im Ernstfall berücksichtigt und geschätzt werden, kann das Team über sich hinauswachsen. Im Bemühen als Gesamtteam optimale Lösungen zu bringen, entsteht eine Atmosphäre der gegenseitigen Würdigung, des Engagements und des Zusammenhalts, der die qualitativ hochwertige Teamarbeit stabilisiert. Auch beim Thema Hochbegabte im Team entsteht so die Möglichkeit, vereinfachende stereotypisierende Perspektiven in eine gewinnbringende Nutzung von Unterschieden zu verwandeln.
Weitere Literatur
Campagna, A., Giesberg, S. & Pieper, U. (2025). Plötzlich hochbegabt. Erst spät erkannte Hochbegabte erzählen ihre Geschichte. München: Goldmann
Hossiep, R., Frieg, P. &, Scheer, H.-D. (2012). Anders als die Norm – wie Personalmanager die Potenziale Hochbegabter besser nutzen können. Wirtschaftspsychologie aktuell, 4, S. 17-20
Scheer, H.-D. (2020). Wie ich werde, was ich bin. Hochbegabung: Navigation für Erwachsene. Norderstedt: BoD
Scheer, H.-D. (2010). Trotz Intelligenz scheitern – warum Hochbegabte im Beruf versagen. Wirtschaftspsychologie aktuell, 1, S. 44-48
Heinz-Detlef Scheer, Diplom-Psychologe, Geschäftsführer von Scheer Consulting in Bremen, Einzel-Coaching speziell für Hochbegabte. Foto: Tim Lachmann