Unternehmen agieren heute im „flexiblen Kapitalismus“, brechen den psychologischen Arbeitsvertrag und geben Unsicherheiten an ihre Führungskräfte weiter. Die meisten Führungsansätze greifen daher zu kurz. Radikales Führen bietet flexible Handlungsprinzipien.
Führungsansätze gibt es heutzutage wie Sand am Meer: Agile Leadership, Servant Leadership, Followership und einige andere Konzepte mehr bevölkern den Garten der Management-Ideen, die bei Bedarf gepflückt und in die Vase der Personalentwicklung gestellt werden – bis sie verwelken und es Zeit wird für ein neues Konzept, eine neue Idee. Oft verkörpern diese Führungsansätze einen Führungsstil, den man haben oder auch vermeiden sollte, um als Führungskraft Erfolg zu haben. Solche Führungsstilansätze verkennen unter Umständen die Tatsache, dass Führung nur in Zusammenhang mit den Geführten und in unterschiedlichen Kontexten geschieht. Es kann daher keine wirksame Führungsphilosophie geben, die nicht in einem Dreieck Führungskraft, Mitarbeiter und Kontext zueinander stellt und aufeinander Bezug nimmt.
Der psychologische Arbeitsvertrag wurde gebrochen
Zunächst sei die Frage erlaubt: In welchem Zustand operieren Organisationen heute? Dazu kann man festhalten, dass die allermeisten Organisationen in den Parametern des sogenannten „flexiblen Kapitalismus“ operieren (im Gegensatz zu dessen Vorgänger, dem „sozialen Kapitalismus“). Der flexible Kapitalismus ist unter anderem gekennzeichnet durch erhebliche wirtschaftliche und politische Unwägbarkeiten („Disruptionen“), einen hohen Grad an Digitalisierung, einen mitunter hohen Grad an organisationaler Dezentralisierung, die Existenz sehr unterschiedlicher Organisationsformen (von der traditionellen Pyramide über Plattform-Unternehmen bis hin zu Netzwerk-Organisationen) und – was für Führung ebenfalls sehr wichtig ist – einen Bruch des sogenannten „psychologischen Arbeitsvertrages“.
Diesen psychologischen Arbeitsvertrag konnte man im sozialen Kapitalismus noch auf die Formel bringen: Arbeitsleistung gegen Sicherheit und Perspektive. Man investierte seine Arbeitskraft und erhielt im Gegenzug implizit das Versprechen auf ein planbares Gehalt und die Aussicht auf langfristige Beschäftigung.
Diese Formel gilt für viele Arbeitnehmer nicht mehr. Die Faktoren des flexiblen Kapitalismus sorgen dafür, dass es immer mehr Unsicherheit, befristete Arbeitsverhältnisse etc. gibt und die ökonomischen Unwägbarkeiten immer mehr auf den arbeitenden Menschen abgewälzt werden. Die Organisationen geben somit das generell unsichere Umfeld des flexiblen Kapitalismus strukturell an ihre Mitarbeiter weiter.
Führung geschieht heute auf unsicherem Terrain
Diese Unsicherheit, dieses permanent beta, wird zum operativen Grundzustand vieler Organisationen und damit zur Arbeitsatmosphäre der Führungskräfte. Dieser Zustand ist ein direkter Angriff auf die Kontrollillusion vieler Führungskräfte, die zwischen dem Management ihres Führungsalltags und einem menschenbezogenen Leadership zerrieben werden. Und wie will man in einem so unvorhersehbaren Umfeld einen bestimmten Leadership-Stil verwirklichen? Jede Betrachtung von Führung und erfolgreichem Führungsverhalten muss daher von folgender Diagnose ausgehen: Die Bedingungen des flexiblen Kapitalismus und der Zustand des permanent beta zwingen Organisationen zu bestimmten instinktiven Reaktionen, unter anderem zur Aufkündigung des psychologischen Arbeitsvertrages. Wir haben es daher im Führungsdreieck Führungskraft – Mitarbeiter – Organisation an allen drei Stellen mit erheblichen Erschütterungen im Selbstverständnis zu tun. Wie soll Führung darauf reagieren?
Radikales Arbeiten eröffnet Perspektiven
In Anerkennung dieser Erschütterung möchte das Radikale Arbeiten Orientierung und Handlungsideen für Führungskräfte (und übrigens auch für Mitarbeiter) liefern. Der Kern des Radikalen Arbeitens besteht aus flexiblen Handlungsprinzipien, den sogenannten PEARLs:
- Pragmatismus: Mach das, was funktioniert, und lass alles andere weg.
- Entfaltung: Bring das Beste in dir und anderen hervor.
- Abgrenzung: Schütze dein Privatleben vor deiner Arbeit.
- Respekt: Begegne anderen mit Hilfsbereitschaft und Wertschätzung.
- Lernen: Erweitere täglich dein Wissen und Können.
Diese Prinzipien stellen kein Management-Modell dar, sondern sind zunächst einmal als Inspiration für die tägliche Arbeit gedacht. Dahinter liegen mehr als 30 Werkzeuge für den beruflichen Alltag, die man als Führungskraft oder Mitarbeiter umsetzen kann. Entscheidend ist jedoch, dass diese Prinzipien kein Mindset-Appell sind, man den Menschen also kein neues Denken einpflanzen muss. Radikales Arbeiten versteht sich als Katalog von Handlungsoptionen, als Entwicklungsprogramm für ein befreites Arbeitsleben.
Dabei besteht der erste Schritt üblicherweise darin, sich erst einmal dem Radikalen Arbeiten mit seinen Zielen zu öffnen: Arbeit ohne Bullshit, Arbeit ohne Angst, Arbeit mit Dynamik und Arbeit, die man wirklich, wirklich will. So kann man den oben erwähnten Zustand des permanent beta einer Organisation mit einem Zukunftsgedanken, einer gemeinsamen Idee verknüpfen.
Markus Väth: Radikal Arbeiten. Gebrauchsanweisung für ein befreites Arbeitsleben.
Freiburg: Haufe Verlag, 216 Seiten, 24 Euro
Was bedeutet nun Radikales Führen?
Der Lernprozess einer Führungskraft hin zum Radikalen Führen folgt der Reise eines klassischen Coaching-Prozesses: Identifizieren – Verstehen – Entwickeln – Anwenden: Was funktioniert bei mir, und was kann ich im Alltag weglassen? Wie grenze ich mich erfolgreich ab? Wie kann ich das Beste in anderen hervorbringen – und was ist das eigentlich? Wie erweitere ich selbst mein Wissen und Können?
Nach dem Motto „Erst sich selbst, dann andere führen“ ist eine Reise zum Radikalen Führen auch eine Reise zu eigenen Einstellungen und Fähigkeiten. In dieser Hinsicht schließt Radikales Führen einige andere Führungsideen wie Servant Leadership oder Followership ein und geht gleichzeitig über sie hinaus – indem Führungskraft, Mitarbeiter und Organisation als eine zusammenhängende Dynamik erkannt wird.
Radikales Führen bedeutet die Anwendung der fünf PEARL-Prinzipien im Führungsalltag. Nicht mehr und nicht weniger. Die Führungskraft wird somit zum Rollenmodell einer neuen Zusammenarbeit, die implizit weitere moderne Konzepte im Schlepptau hat: psychologische Sicherheit oder ein dynamisches Selbstbild.
Die PEARLs: Konkrete Führungsfragen
Im Folgenden einige Fragen, die dabei helfen sollen, das eigene Radikale Führen zu entwickeln:
Pragmatismus:
- Was funktioniert bei meinem Zeit- und Selbstmanagement? Was nicht? Wie gut gelingt es mir, im Jetzt zu leben?
- Welche analogen und digitalen Instrumente nutze ich in meinem beruflichen Führungsalltag? Was verspreche ich mir davon und ist dieses Versprechen eingetreten?
- Welchen Grad an „Bullshit“ erlebe ich in meiner täglichen Führungsarbeit, wenn ich an Strukturen, Prozesse, Aufgaben und Kommunikationen denke?
Entfaltung:
- Verfüge ich über ein dynamisches Selbstbild oder ein statisches Selbstbild? Wie stark belastet mich eigene Veränderung?
- Für wie handlungsfähig halte ich mich? Gehe ich eher von einer internen Kontrollüberzeugung aus oder von einer externen?
- Wie gut kenne ich meine persönlichen und beruflichen Stärken? Fühle ich mich beruflich am richtigen Platz?
Abgrenzung:
- Welche sozialen Rollen nehme ich im Leben ein – außer meiner Arbeitsrolle? Wer bin ich, wenn ich nicht führe bzw. arbeite?
- Welche technischen Grenzen existieren, damit meine Arbeit nicht in mein Privatleben vordringt? Wie erreichbar bin ich nach Feierabend?
- Wie trainiert bin ich in mentaler Disziplin, um mein Bewusstsein und Wohlbefinden auf mein Privatleben zu richten?
Respekt:
- Welches Menschenbild habe ich? Welche Vorurteile und Glaubenssätze pflege ich gegenüber anderen?
- Wie gut bin ich darin, Vertrauen zu anderen aufzubauen? Was hilft mir dabei?
- Was sind für mich selbst Formen des Respekts? Wie können andere meine Hilfsbereitschaft und Wertschätzung erkennen?
Lernen:
- Welche Wissensquellen nutze ich? Wie solide sind sie in meinen Führungsalltag eingebaut?
- Kenne ich meine individuelle Lernstrategie? Und habe ich Zeiten und Räume für soziales Lernen mit anderen?
- Wie groß ist meine erlebte Selbstwirksamkeit, wenn es um Lernen geht? Wie gut kann ich Lerninhalte in meinem Führungsalltag umsetzen?
Fazit
Organisationen geben innerhalb des flexiblen Kapitalismus Unsicherheiten und Unschärfen von außen nach innen an ihre Führungskräfte und Mitarbeiter weiter. Dieser Zustand des permanent beta bildet das strukturelle und kulturelle Feld, in dem Führung heute stattfindet. Deshalb greifen die meisten Führungsansätze zu kurz, entweder weil sie die wechselvollen Beziehungen Führungskraft – Mitarbeiter – Organisation zu wenig berücksichtigen oder weil sie in ihrer Philosophie zu unflexibel sind.
Radikales Arbeiten bzw. Radikales Führen bietet demgegenüber ein handlungsorientiertes, dabei flexibles Action-Set an, das auf der Basis „erst sich selbst, dann andere führen“ basiert und dabei klar und verständlich auf die Grundhandlungen moderner Führung eingeht. In diesem Sinne kann Radikales Führen zum Motor einer besseren Zusammenarbeit von Führungskraft und Mitarbeiter und zur Inspiration für Mensch und Organisation werden.
Weitere Literatur
Blessin, B., Wick, A. (2021; 9. Auflage). Führen und führen lassen. Stuttgart: UTB.
Sennett, R. (2006). Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin Verlag.
Väth, M. (2025). Radikal Arbeiten. Gebrauchsanweisung für ein befreites Arbeitsleben. Freiburg: Haufe.
Markus Väth, Diplom Psychologe, Begründer des Radikalen Arbeitens, Berater und Führungskräftecoach in Nürnberg, Lehrbeauftragter an der Techni-schen Hochschule Nürnberg